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Überwachen und konsumieren – Kontrolle, Normen und soziale Beziehungen in der digitalen Gesellschaft – Teil 4

Konzept: Überwachung als soziale Praktik und Beziehung

Gary Marx führt im Zusammenhang mit dem Sammeln persönlicher Daten folgende zwölf Zwecke an: Übereinstimmung (mit Verhaltensregeln, Standards, subjektiven Regeln); Überprüfung; Entdeckung; Dokumentation; Prävention; strategische Vorteile (Beeinflussung); Profit; symbolischer Natur; Publicity; organisatorische Funktionalität (Management oder Verwaltung); Neugier, eigenes Wissen.

Persönliche Informationen sind deshalb zentral, weil diese der Stoff der Überwachung sind. Diese Zwecke, zusammen mit der Art und Weise der persönlichen Informationen, die von einer Person gesammelt und gespeichert werden, verweisen u.a. auf die Beziehung zu einer oder mehreren Personen. Diese Beziehungen können nah oder fern sein, aber drücken hierin immer eine soziale Beziehung aus. Nicht alle gesammelten Informationen dienen einer Überwachung oder Kontrolle der Person, weshalb Geburtsdaten auch kein Geheimwissen darstellen, sondern ein recht öffentliches Datum, ebenso wie z.B. das Geschlecht. In bestimmten Zusammenhängen und zu bestimmten Zwecken gesammelt, können mit diesen Daten allerdings Kontrollvorgänge konstruiert werden. Helen Nissenbaum verweist auf die kontextuelle Integrität von Informationen, was bedeuten soll, dass Informationen einen Kontext haben, der beachtet und respektiert werden sollte. Hier drücken sich Nähe- und Distanzverhältnisse aus, je nachdem wer die Daten abfragt, zu welchen Zwecken und Notwendigkeiten, mit oder ohne Kenntnis der betroffenen Person. Überwachung oder besser Überwachungspraktiken können sich zum einen bestehende soziale Beziehungen zunutze machen, in dem vorhandene, in einem Kontext erhaltene Informationen mit anderen Zielen weiter verwendet werden.

Zum anderen können Überwachungspraxen dort ansetzen, wo soziale Beziehungen eine Rolle spielen, welche allerdings auch verhindern können, dass in diesen Kontexten Handlungen als Überwachung oder Kontrolle wahrgenommen werden. Schließlich etablieren Kontrollpraktiken auch soziale Beziehungen, zumindest immer zwischen den Überwachenden und den Überwachten. Und dann gibt es den Fall, dass sich über bestimmte Praktiken (nicht notwendigerweise solche, denen soziale Beziehungen zugrunde liegen), etwas herausbildet, das analytisch als Überwachung gefasst werden kann, in der Praxis jedoch nicht so aussieht. Weder das Panoptikum als Metapher noch die surveillant assemblage bieten hierfür einen Erklärungsansatz, sie verbleiben beide eher auf einer institutionellen, technischen Ebene.

Die an diesen Prozessen beteiligten Menschen und ihre Beziehungen zueinander, die Vermittlung dieser Beziehungen und deren Bedeutung für die Ausgestaltung und die weiteren Dimensionen von Überwachung, spielen darin keine oder eine nur sehr marginale Rolle. Variationen oder Ergänzungen zu den bestimmenden Ansätzen wie banopticon, pansprectron oder synopticon ändern diesen Fokus im Grundsatz nicht. Dabei ließen sich in beiden Modellen eine Reihe von Beziehungen entdecken und thematisieren. Für die Modelle an sich aber spielen sie keine große Rolle. Im Panoptikum könnte man z.B. über die Beziehungen zwischen Wärter:innen und Gefangenen nachdenken, beide erfüllen aber eher Rollen von Stellvertreter:innen, die der Richtung des Blickes untergeordnet sind und keinerlei eigene Qualitäten oder Attribute haben.

Über die Bedeutung sozialer Beziehungen für Kontrollpraktiken hinaus, muss Überwachung selbst als kulturelle und soziale Praxis verstanden werden, da Akteure in ihrem Handeln ständig, gezielt oder auch unreflektiert auf kulturelles Wissen zurückgreifen. Ähnlich wie alle anderen Technologien sind auch solche, die zur Überwachung eingesetzt werden, verhandelbare Bestandteile von Kultur und somit Teil kultureller und auch sozialer Praktiken, die entweder darüber vermittelt werden oder konstitutiv für diese sind.

Das bedeutet konkret folgendes:

  • Überwachung ist als Ausdruck von Handlungen zu verstehen, um damit einen Blick auf die Akteure und ihre sozialen Beziehungen in der Ausübung dieser Praktiken zu werfen;
  • Soziales und kulturell bedingtes Handeln bringt Überwachung hervor, die als solche in der Praxis nicht so benannt wird, analytisch aber alle Merkmale dafür erfüllt;
  • Dieses Handeln schließt den Umgang mit Technik (wo vorhanden) mit ein: Technik ist also nicht eine Ergänzung dieser Praktiken, sondern kann diese begründen, ist aber zumindest mit diesen so verwoben, dass man von Technik als sozialem und kulturellem Gut sprechen muss.

Warum eine Perspektive, die Überwachung als kulturelle und soziale Praxis begreift? Und warum dieser Fokus auf die sozialen Beziehungen? Ein kurzer Ausflug zu den Potenzialen, Erklärungshorizonten und Grenzen bisheriger Modelle kann das verdeutlichen. Forschung zu Überwachung bedeutet sehr häufig eine Konzentration auf die beobachtbare und an Artefakten ausgerichtete, technische Dimension von Überwachung. Hier manifestiert sich Überwachung jenseits eines abstrakten Modells über die Strukturen in den Technologien, die als Forschungsobjekt so etwas wie das populäre Gesicht der unterschiedlichen akademischen, populären und politischen Diskurse darstellt: Videokameras, biometrische Pässe, Iris-scanner, DNA-Analysen, der klassische Fingerabdruck, Algorithmen oder, etwas sehr verallgemeinernd, das Internet und die seit ein paar Jahren mit zunehmender Tendenz üblicherweise genannte Künstliche Intelligenz. Des Weiteren kann man Technologien wie MRTs zur (erhofften) Erkennung von Denkmustern, digitale Bildaufzeichnungen, Satelliten oder die somatische Überwachung von Körperfunktionen sowie Körperimplantate nennen.

Der empirische Zugang zu Überwachung hat seinen Ausgangspunkt sehr häufig in der Bewertung solcher Technologien bzw. der einzelnen technischen Artefakte hinsichtlich ihrer sozialen oder ethischen Konsequenzen, ihrer politischen sowie legalen Rechtmäßigkeit. Ein an der technischen Dimension ausgerichteter Ansatz nutzt Technik als Einstieg, um über das Artefakt selbst hinausgehende Beziehungen zu erkunden. Dabei besteht die Gefahr, Technik als bloßes Objekt zu nutzen, ohne die Artefakte in ihren Wirkungen und symbolischen, politischen oder sozialen Bedeutungen selbst zu unterscheiden. Rechtliche oder politische Bewertungen würden dann vorgenommen, ohne mögliche Bedeutungs- oder Zuschreibungsunterschiede zu thematisieren.

Die technische Dimension darf nicht dazu verleiten, lediglich verschiedene Technologien nach dem einen oder anderen theoretischen Muster abzuhandeln oder gar schon als Ausdruck von Überwachung an sich zu betrachten. Technologie ist ein besonderes Element von Überwachung. Und so gehören dazu auch Bereiche, die üblicherweise nicht sofort als Technik erkannt oder als solche bezeichnet werden, dieses aber durchaus sind, wie z.B. Architektur oder Stadtplanung. Auch bürokratische Verfahren kann man dazuzählen, insbesondere dann, wenn diese über Software vermittelt bzw. ausgeübt werden. Technik als Einstieg zu wählen, bedeutet Überwachung über den Weg materieller oder immaterieller Phänomene zu betrachten.

Andere Dimensionen, wie z.B. eine soziale oder rechtliche, würden in diesem Fall der Technik nachgeordnet sein. Ein Einstieg über die rechtliche Dimension von Überwachung kann helfen, die Maßnahmen oder Regelungen als Teil einer normativen Ordnung zu begreifen sowie die sich möglicherweise er-gebenden Störungen, Abweichungen oder Herausforderungen des Rechtssystems. Schaut man auf die sozialen Dimensionen von Überwachung, dann sind damit die Formen der Vermittlung oder der Kontrolle sozialer Normen gemeint. Diesbezüglich würde man sich dann damit beschäftigen, inwiefern die Beziehungen von Individuen in einer Gesellschaft betroffen sind und wie Vergesellschaftung unter welchen Bedingungen sich verändert oder überhaupt möglich ist. Eine Perspektive, die Überwachung in ihrer sozialen Dimension untersucht, schaut nach den Formen und Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe und genereller gesellschaftlicher Strukturen unter den Bedingungen von Überwachung – ohne das letztere bis jetzt überhaupt genauer definiert wurde. Überwachung wirkt in all diesen Fällen auf andere Bereiche ein, geht aber aus keinem wirklich hervor oder ist immanenter Teil dieser.

Es ist offensichtlich, dass keine der hier kurz skizzierten Dimensionen pur und ausschließlich das eine oder andere Phänomen von Überwachung ausmacht. Wie bei vielen Dingen bieten sich durch die vielfältigen Dimensionen unterschiedliche Bewertungsansätze und es werden öffentliche Debatten und akademische Diskurse von ihnen bestimmt. Forschung zum Thema kann immer mehrere dieser Blickwinkel einschließen, mit jeweils unterschiedlich gesetzten Schwerpunkten. Es ist allerdings wichtig zu verstehen, dass sich Überwachung nicht allein aus dem Vorhandensein einer Kamera erklären lässt oder ein Modell, wenn auch präferiertes und theoretisches, über alle Phänomene gleichermaßen gelegt werden kann. Überwachung ist mehrdimensional und bietet durch die Mehrdimensionalität des Phänomens zahlreiche Ansatzpunkte zur theoretischen und empirischen Forschung.

Es gibt zwar eine Übereinkunft darüber, was das Phänomen ausmacht, allerdings wenig Erklärendes dazu, wie, wo oder warum Überwachung passiert oder sich in bestimmten Konstellationen entwickelt, noch unter welchen Beschreibungen und mit welchen kulturellen Hintergründen diese rationalisiert werden. Sie ist zu-nächst einmal da – symbolisiert oder manifestiert in Techniken, Gesetzen, sozialen Verwerfungen oder theoretischen Modellen. Doch es bieten sich durchaus auch alternative Sichtweisen bekannter Konstellationen an, die darauf verweisen, dass eine kulturelle Praxis wichtig für die Analyse von Überwachung ist.

So ist das Panoptikum ein Gefängnis, eine Architektur-Technik, in der das Verhältnis von Wärter:innen und Gefangenen eingeschrieben ist. Wie aber sieht der Alltag der Gefangenen aus und wie der der Wärter:innen? Welche Praktiken bestimmen ihr Verhältnis zu der Architektur? Und inwieweit bestimmt die Technik ihr Handeln? Es ist unwahrscheinlich, dass die einseitige Beobachtung der Gefangenen durch die Wärter:innen das Einzige ist, was darin stattfindet und, dass niemand arbeitet, speist, schläft oder – im Falle der Wärter:innen – nach Hause geht oder gar auf der Wache einschläft. Das galt bei der Konzipierung des Panoptikums durch Bentham und trifft auch auf heutige Formen der Überwachung gleichermaßen zu. Denn Überwachung hat durchaus auch eine praktische Dimension. Da sie letztlich irgendwo und irgendwie »passiert«, muss sie in Handlungen eingebettet sein und wird letztlich durch diese ursächlich erst erfahrbar. Überwachen ist eine Tätigkeit. Es gibt fast immer einen Punkt, an dem innerhalb einer Abfolge von Entscheidungen und rechtlichen Rahmenbedingungen, theoretischen Annahmen und technologischen Voraussetzungen gehandelt wird. Dort kommen Menschen, vermittelt über Technologien oder durch Gesetze und Vorschriften, in Kontakt, und es können sich generelle, allgemeinere Praxen von Überwachung und Kontrolle überhaupt erst herausbilden. An diesen Stellen kann man Überwachung arbeiten sehen – auch wenn sie oft dann nicht so heißt oder auf den ersten Blick als solche zu erkennen ist. In vielen Fällen werden zunächst einmal Vorschriften umgesetzt, wobei Menschen inneren und äußeren Zwängen ausgesetzt sind. Diese Vorschriften sind nicht per se auf die Überwachung anderer ausgelegt, können aber in der Konsequenz als solche empfunden werden. Auch sagen Vorschriften wenig darüber aus, wie z.B. das Wachpersonal die ihnen übertragene Aufgabe konkret auszuführen hat, welche eigenen Vorstellungen ihre tägliche Arbeit beeinflussen und wie sich darauf neue Praxen der Überwachung oder auch des Widerstandes oder Neuinterpretation herausbilden können.

In Bezug auf die mittlerweile zur Ikone gewordenen Videokameras – ganz gleich ob im öffentlichen Raum, in U-Bahnen oder Shopping Malls – kann man nicht allein aufgrund des Vorhandenseins der Technik selbst von einer Überwachungsmaßnahme sprechen. Vielmehr müssen bei Untersuchungen und Bewertungen auch die Menschen und ihre Praktiken in Betracht gezogen werden, die aus einer installierten Kamera eine Überwachungsmaßnahme werden lassen. Norris & Armstrong und McCahill haben mit ihren Studien zu den Überwachern und den inneren Strukturen von Kontrollräumen einen wichtigen Betrag geleistet, an den sich hier auch über die Kameras hinaus anschließen ließe. Aufzeichnungen müssen angeschaut werden, Verdächtigungen und die ihnen zugrundeliegenden Kategorien der Bewertung sind keine ontologischen, sondern sozial konstruierte Tatsachen. Der Arbeitsalltag ist oft langweilig und von den üblichen Strukturen abhängiger Arbeitsverhältnisse, sowohl gegenüber den Chefs als auch untereinander, geprägt. Und manchmal lässt auch die konkrete Praxis nicht vermuten, dass es sich um mehr handeln sollte, als um einen Wachgang, der eine Form der Überwachung darstellt, aber in den üblichen Theorien eher blass bleibt. Sicherheitskräfte können nachts um leere Grundstücke herumlaufen, ohne dass ihre Kontrolltätigkeit einen Einfluss auf andere Menschen hat oder sich ihre Praxen konkret in einen größeren Zusammenhang eines »Überwachungsstaats« stellen ließen – ohne von der Gesellschaft als Überwachungsstaat per se sprechen zu müssen. Überwachung in diesem Sinn ist nicht immer prickelnd, in seinen konkreten Formen nicht immer gefährlich und trägt nicht unbedingt den gesamten Überwachungsstaat mit sich herum. Auch sind viele dieser Maßnahmen nicht geplant im Hinblick darauf, Teile eines größeren Zusammenhanges in einer »Überwachungsgesellschaft« zu sein. Sie spiegeln Trends wider, sind aber Einzelentscheidungen, die nur in der Summe und nur von außen, ein von innen nicht erkennbares Bild größerer Überwachungs- und Kontrollzusammenhänge ergeben. Viele der Maßnahmen, Angebote, Verfahren oder Techniken, die als Überwachung bezeichnet werden, sind aus den Notwendigkeiten wirtschaftlicher Gewinnmaximierung oder bürokratischer Erfordernisse heraus entstanden – kein böswilliger Staat hat sie sich ausgedacht, um dem Ideal des Big Brother oder eines allumfassenden Panoptikums nachzueifern. Und genau deshalb werden manche dieser Maßnahmen nicht als Überwachung oder Kontrolle wahrgenommen. So kann man mit Kundenkarten oder Konsumapps nämlich tatsächlich einkaufen gehen, was bedeutet, dass die damit verbundene Praxis das Einkaufen und nicht der Datenschutz bzw. das Ausspionieren der Kund:innen ist. Aus demselben Grund scheinen die Kund:innen aber auch so »fahrlässig« zu sein und sich ins Portemonnaie, in die Einkaufstasche sowie ihre Lebensgewohnheiten schauen zu lassen. Der Blick auf die praktische Dimension von Überwachung ermöglicht nicht nur hier eine Analyse der offenen, verdeckten, beabsichtigten oder kollateralen Formen von Überwachung und Kontrolle. Oft sind Teile davon in diesen Praktiken erkennbar, unter Umständen in sie eingeschrieben oder werden über sie vermittelt.

Ganz generell gehört dazu, die Perspektive auf die praktischen Aspekte von Überwachung und Kontrolle zu lenken, und diese in ihren jeweiligen Formen zu beschreiben. Hiermit ist vor allem die Frage nach den Eigenarten und eigenständigen Logiken gemeint, die verschiedene Praktiken innerhalb verschiedener Anwendungsgebiete haben, z.B. bei der Polizei im Gegensatz zum Kaufhaus, in einem Ministerium im Unterschied zu einem Bordell. Was macht eine konkrete Praxis so speziell und welche Bedeutung kommt ihr in einem größeren gesellschaftlichen Rahmen zu? Über solche grundsätzlichen Fragen kann erörtert werden, welche theoretischen Schlüsse man aus den Praktiken für eine Theorie von Überwachung ableiten kann. Dass Überwachung kleinteiliger ist als die Verwendung des Begriffes oft vermuten lässt, dürfte mittlerweile keine großen Diskussionen hervorrufen. Zu klären wäre, welche Aspekte einer »Überwachungs- und Kontrollgesellschaft« über eine spezielle Praktik vermittelt werden und wie diese eventuell in diese eingeschrieben sind bzw. von dieser als Teilaspekt repräsentiert werden. Die Analyse von Praktiken bietet die Chance, die Bedeutung des Subjektes innerhalb von Zusammenhängen zu untersuchen, in denen es in der Regel als passives Objekt bzw. als Spielball undurchschaubarer, »dunkler« Mächte verharren muss. Ist es eigenständig oder doch nur ein gezwungener Teil eines Systems, eines Handlungszwanges, den es selbst nicht durchdringen kann? Wenn es tatsächlich eigenständig ist, drängt sich die Frage nach den möglichen Widerstandspotenzialen gegen Überwachungspraktiken auf. Sind diese vorhanden? Werden sie genutzt? Und was passiert mit einer Maßnahme, wenn die Idee durch Handlungen konterkariert wird? Letztlich gilt es immer auch zu klären, worauf sich eine Überwachungspraxis bezieht, ob es klare Vorgaben und Ziele gibt oder ob es sich um eine selbstgenerierende Praktik handelt, in der ein Ziel nur durch die Tätigkeiten selbst erkennbar werden kann.

Will man verstehen, warum Überwachung funktioniert, wie die Umsetzung von Gesetzen auf Gesellschaft wirkt, wie der Überwachungsstaat konstituiert ist, dann kommt man an den Praktiken der Überwachung und Kontrolle nicht vorbei. Will man mit dieser Perspektive Überwachung und Kontrolle untersuchen, bedeutet das, sich in jeweils konkreten Fällen darauf zu konzentrieren, wie Überwachung »passiert« und welche Rolle die Handelnden bzw. die Beteiligten der dabei betroffenen Beziehungen spielen. Die Perspektive auf die Praktiken von Überwachung (also Kontrolle und Überprüfung) bzw. auf die Praktiken, die an Überwachungs- und Kontrollregime anschlussfähig sind, ist deshalb so wichtig, weil hierdurch die tatsächlichen Aushandlungsprozesse deutlich werden können, die es braucht, um Überwachung im Großen zu analysieren.

Überwachung besteht durch die sozialen und kulturellen Praktiken der Handelnden sowie ihren Interpretationen und Deutungen von Technologie und die sie umgebenden Kontexte. Das sollte bei der Analyse berücksichtigt werden. Damit ist allerdings noch nichts über das Verhältnis der Akteure untereinander gesagt worden. Die Fortführung einer Betrachtungsweise der kulturellen Praxen im Zusammenhang mit Überwachung bedeutet, sich auf die Herausbildung sozialer Beziehungen zu konzentrieren, die hier entstehen bzw. wie diese generell durch Überwachung konstituiert werden. Jenseits aller Unschärfen des Begriffes der Überwachung spricht viel dafür, dass ein Aspekt so gut wie immer zur Qualifikation von Überwachung zutrifft: Überwachung schafft eine Beziehung, die in der Regel ein Subjekt und ein Objekt generiert. Eine Person oder eine Technik beobachtet, etwas oder jemand wird beobachtet. Und gehen wir davon aus, dass Überwachung, wie sie hier verstanden wird, sich auf Menschen und ihr Verhalten bezieht, dann wird hier eine soziale Beziehung etabliert.

Diese dichotome Beziehung trifft auf fast alle Formen der Überwachung zu – eine Selbstüberwachung im Sport, beim Training oder an anderer Stelle mag davon ausgenommen sein. Schaut man sich allerdings tiefergehende Diskussionen zur Selbstbeobachtung oder Selbstüberwachung an, dann sind auch diese Formen an die Existenz Dritter gebunden, die diese Selbstbeobachtung initiieren, hervorrufen, abgleichen oder als Referenz nutzen, womit die binäre Opposition von Subjekt und Objekt erhalten bliebe. Dass sich bei einer gegenseitigen Überwachung die Rollen von Subjekt und Objekt verkehren können, ist selbstverständlich, zeigt aber auch nur die generelle Unbeständigkeit solcher Beziehungen, die eben mit dem Rückgriff auf kulturelles Wissen und sozialer Rollen in unterschiedlichen Kontexten neu ausgehandelt werden bzw. sich in und durch diese konstituieren. Die Alltagserfahrungen von Menschen, ihr Handeln und ihre dahinterstehenden Rationalitäten sind deshalb hier von besonderer Bedeutung. Auch wenn eine solche Dichotomie analytisch nützlich ist, so zeigt die empirische Erfahrung, dass die Verhältnisse und Beziehungen doch oft komplizierter sind, zumal wenn es um eine Bestimmung von Objekt und Subjekt geht.

Überwachung ist zumindest bidirektional, wenn nicht vielfältiger. Überwachung als soziale Beziehung ermöglicht eine besondere Form der Kommunikation oder sozialen Interaktion zwischen persönlich an- und abwesenden Personen. Das bedeutet keinesfalls, dass diese Kommunikation gleichberechtigt ist, aber sie ist vorhanden. Über sie werden die Teilnehmer:innen strukturiert und eingeteilt, die wiederum ihre Möglichkeiten zur Partizipation an dem jeweiligen Kommunikationsprozess. Überwachung beeinflusst Überwacher:innen und Überwachte. Denn in den Alltagserfahrungen, in denen sie handeln, wird sowohl Überwachung geprägt, als auch verändert und mit Bedeutungen versehen. Diese Handlungskontexte zu verstehen, bedeutet einen Zugang zu den Interpretationsmöglichkeiten von Überwachung und somit auch ein Verständnis zur Bewertung von Überwachungsmaßnahmen und zu deren Wahrnehmung zu gewinnen. Genau deshalb sollte eine

Forschung zu Überwachung und auch die Bewertung solcher Maßnahmen oder technischer Innovationen weitergehen, als nur bis zur Frage, ob etwas effektiv arbeitet oder ob ein Instrument einen panoptischen Effekt hat. Dieser ist so absolut und mit theoretischen als auch populären Annahmen verbunden, dass dahinter die Kommunikationsmöglichkeiten und sozialen Beziehungen zurückstehen müssen, die im einzelnen Fall einem Panoptikum gerade zuwider laufen könnten. Nimmt man diese soziale Beziehung von Überwacher:innen und Überwachten als Ausgangspunkt der Betrachtung, dann muss eine Forschung und Bewertung auf der Kenntnis dieser Beziehung aufbauen. Das bedeutet die Arbeitsabläufe, politischen Wünsche, die Wahrnehmungen und Narrative zu untersuchen, die damit verbunden sind.

Nach den Auswirkungen von Überwachungsmaßnahmen zu fragen, bedeutet eben nicht über philosophische oder theoretische Konsequenzen zu spekulieren, sondern heißt sich den Erfahrungen von Akteuren zuzuwenden und wie diese von der Politik und den Konsequenzen von Technologien selbst, den Arbeitsabläufen oder rechtlichen Rahmenbedingungen abhängen und beeinflusst werden.

Die konsequente Herleitung einer Betrachtungsweise, die soziale Beziehungen im Zusammenhang mit Überwachung in den Mittelpunkt stellt, muss als Modell mit verschiedenen Ausprägungen gesehen werden. Technologie ist dabei nicht ursächlich für Überwachung, sondern Mittel, Projektionsfläche oder ihr Produkt. Überwachung ist eine sozialkulturelle Praktik. Ob diese durch sich selbst entstanden ist oder, was wahrscheinlicher ist, im Zusammenspiel mit anderen Prozessen, muss kontextabhängig bestimmt werden.

  • Überwachung als sozialkulturelle Praktik konstituiert soziale
  • Überwachung ist somit eine eigene soziale Beziehung, die verschiedene Akteure und Parteien zueinander in Relation setzt – möglicherweise, aber nicht notwendigerweise hierarchisch.
  • Überwachung als soziale Beziehung kommt in den Praktiken zum Vorschein, die von Machtverhältnissen innerhalb einer weitergefassten, politökonomischen Konstellation geprägt sind. Das bedeutet, dass Menschen (oder Institutionen) andere Menschen (oder Institutionen) im Auftrag dritter Parteien überwachen.

Technologie in diesen Praktiken wird verwendet, weil:

  • sie vorhanden ist;
  • sie sich für eine Überwachung nutzen lässt;
  • über sie soziale Beziehungen hergestellt werden, und somit Überwachung entsteht oder daran anknüpfen kann;
  • politische, wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Notwendigkeiten bestehen, die eine Verwendung nahelegen.

Technologie kann hier u.U. zu einer Lösung von als Problem identifizierter Sachlagen dienen. Zu berücksichtigen sind die Wechselwirkungen sowie mögliche Funktionswanderungen von Technologie, d.h. dass eine für ein Problem etablierte technische Lösung auch für andere benutzt wird, bzw. sich eine solche Verwendung in der Praxis herausbildet. Die Beachtung sozialkultureller Praxen sowie der Zusammenhänge von Überwachung und sozialen Beziehungen – oder als diese selbst – bedeutet eine alternative Perspektive auf das Phänomen zu haben, die empirisch neue Möglichkeiten eröffnet und theoretisch an den Alltagserfahrungen im Umgang mit Technologie sowie den daran anschließenden Deutungen ansetzt.

Nils Zurawski; 2021

https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5606-0/ueberwachen-und-konsumieren/

https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de

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