Kritik: Überwachung – neue, alte Sichtweisen
Überwachung ist ein vielseitiges Phänomen mit so vielen Aspekten und Perspektiven, dass sich von »der« Überwachung, die man theoretisch mit dem »einen« Konzept fassen kann, nicht sprechen lässt. Möchte man etwas Grundlegendes zu Überwachung sagen, bietet sich am ehesten an, sie als einen routinehaften Vorgang der Sammlung und Verarbeitung von Informationen zu beschreiben. Ob das allerdings in einem Zusammenhang mit staatlicher, bürokratischer Kontrolle passiert oder im Rahmen unternehmerischer Protokollierung – zur Verbesserung des Angebots und der Steigerung der Wertschöpfung – bleibt hierbei unklar und ist auch zunächst nicht von Relevanz. Sobald man aber tiefer in die theoretischen Betrachtungen einsteigt, ist es sehr wohl von Bedeutung, ob man sich mit staatlicher Herrschaftskontrolle beschäftigt oder mit der Überwachung durch Unternehmen – nicht zuletzt da beide Bereiche im Zuge digitaler Vernetzung mehr und mehr über-lappen und oft nicht mehr trennscharf zu analysieren sind.
Die dominanten theoretischen Betrachtungen von Überwachung greifen im Wesentlichen auf zwei vorherrschende Modelle zurück: das Panoptikum und die surveillant assemblage. Das Panoptikum, jenes Modell eines Gefängnisses, in dem der Wärter die Gefangenen sieht, sie aber ihn nicht, ist eine Beschreibung der Disziplinargesellschaft, in dem die Individuen in eine »Form« gegossen werden, mit der sie passend für die Gesellschaft gemacht werden. Die disziplinierende Selbstkontrolle durch die unsichtbare Anwesenheit bei gleichzeitiger vollständiger Sichtbarkeit ist nicht zuletzt durch Michel Foucault sehr prominent geworden und im Überwachungsdiskurs so etwas wie der Standard der Betrachtungen. Alles erscheint wie ein Panoptikum, jede Form der Überwachung wird mit Anleihen an das Modell beschrieben, häufig in sehr banaler Form, quasi als Chiffre für die dahinterstehende Macht und Herrschaftsmodelle – seien es Videokameras an Bahn-höfen, Googles Datensammelstrategien oder die Existenz oder Beschaffen von Reisepässen. Datenbanken jedweder Art sowieso. Dabei gerät so manches durcheinander.
Das Modell der surveillant assemblage beschreibt hingegen eine Überwachungsstruktur, die an die theoretischen Überlegungen zur Kontrollgesellschaft von Gilles Deleuze anschließt. Überwachung besteht in einer Kontrollgesellschaft nicht länger in Formen von Gefängnissen und Disziplinierungsregimen, sondern als allgegenwärtiges Netzwerk verschiedener Technologien und Gelegenheiten, an denen eine Überprüfung (von Individuen anhand von »unabhängigen« Merkmalen) stattfinden kann. Menschen müssen an vielfältigen Kontrollpunkten die entsprechenden Bedingungen des Eintritts erfüllen oder erhalten erst keinen Einlass.
Zu überprüfende Kategorien können Aspekte wie Gesundheit, das »richtige« Aussehen, Einkommen, Vorstrafen, Wohnviertel oder finanzielle Situation sein. Die Konditionen für eine gelungene Prüfung müssen von den Menschen selbst geschaffen werden, kein disziplinierender Staat zwingt sie mehr dazu und die Nichterfüllung führt zu Ausschluss oder Verweigerung, nicht zu unmittelbar strafenden Sanktionen. Die Erziehung der Individuen, was zentral in der Disziplinargesellschaft ist, ist nicht mehr vorgesehen. Eine Bewachung oder Bestrafung der Ausgeschlossenen allerdings schon. Die Kontrollgesellschaft ist das Modell der neoliberalen Spätmoderne, eng verbunden mit einer präventiven Sicherheitsordnung. Jedes Individuum kann in der surveillant assemblage anhand eines Merkmals zum Objekt der Überwachung werden. Ein konkreter Verdacht ist nicht länger nötig.
Von beiden Modellen, vor allem vom Panoptikum, gibt es Neukonzeptionen, Abwandlungen und Anpassungen und es scheint, als wenn es darüber hinaus keine weiteren, grundlegend anderen Konzepte möglich seien. Beide Modelle erklären für bestimmte Gesellschaftsmodelle wie Überwachung stattfindet und wie darüber Macht ausgeübt wird bzw. Macht sich manifestiert. Die Frage ist jedoch, ob sich damit die vielfältigen Erscheinungen dessen, was aus analytischer Sicht als Überwachung oder Kontrolle kategorisiert wird, adäquat beschrieben werden kann. Und ob damit auch erklärt werden kann, wieso und wie diese Überwachung dann funktioniert, wie sich dort Macht entfalten kann und in welchem Verhältnis solche Praktiken zur umgebenden Gesellschaftsordnung stehen.
In beiden theoretischen Konzepten ist implizit oder ausgesprochen von Normen die Rede, es wird aber eher weniger davon gesprochen, wie diese Normen in die Welt kommen; weder ob sie einfach diktatorisch angeordnet werden, es gesellschaftliche Aushandlungen sind, sie per Gesetz (parlamentarisch-demokratisch) eingeführt wurden noch welche Konsequenzen sich aus diesen Normen ergeben. Da beide Modelle sehr abstrakt sind, ist das grundsätzliche Verständnis von Überwachung das einer asymmetrischen Beziehung, meist zwischen einem herrschenden Staat und einer beherrschten Bevölkerung oder einer kapitalistischen Großunternehmenskrake und den nahezu ohnmächtigen Konsument:innen. Damit geht einher, dass beide Modelle, angewandt auf alle möglichen Konstellationen einer solchen Asymmetrie, immer unschärfer werden. Wenn alles irgendwie ein Panoptikum oder eine Kontrolle ist, dann fällt es schwer Abgrenzungen zu finden. In der gegenwärtigen Diskussion ist dies daran zu beobachten, wie zum Beispiel die Diskussion über Datenschutz, bzw. über die Erhebung, Speicherung, Kategorisierung irgendwelcher Daten fast austauschbar mit dem Begriff der Überwachung, geführt wird. Das eine mag mit dem anderen zu tun haben, sicherlich, aber in welchem Verhältnis beide Phänomene zueinander stehen, wird dabei selten erörtert. Die Erhebung von Daten, ganz gleich um was für welche es sich handelt, wird skandalisiert und mit einer Überwachung gleichgesetzt. Das erscheint mir weder sinnvoll noch die Grundlage einer Erklärung; in welcher Weise Überwachung und Kontrolle in unseren gegenwärtigen Gesellschaft stattfinden, wo sie problematisch werden könnten, wie sich Macht darin manifestiert und ausgeübt wird oder warum Widerstand nicht stattfindet – wie es häufig beklagt wird. Brauchen wir also ein neues Modell oder müssten die alten erweitert werden? Beides und keines von beidem.
Mein Vorschlag wäre Überwachung und Kontrolle – die von mir weitgehend synonym verwendet werden – anders zu betrachten bzw. ihnen weitere Qualitäten beizumessen. Grundsätzlich ließe sich so sagen, dass Überwachung nicht per se vorhanden ist, sondern vermittelt wird. Es ginge also darum die Momente, Konstellationen und Kontexte dieser Vermittlungen näher zu untersuchen, um Aussagen über die Formen und Bedeutungen von Überwachung zu einer bestimmten Zeit zu machen, z.B. in der Gegenwart, in einem Zeitalter der Digitalisierung. Insbesondere die Digitalisierung wird häufig gleichbedeutend mit Überwachung dargestellt, weil sie die ermöglichenden Technologien bestimmter Formen der Kategorisierung, und damit auch der Überwachung von Menschen begünstigen, häufig ohne dass es genau so wahrgenommen wird.
Digitalisierung ist aber nicht gleichbedeutend mit Überwachung, sondern verändert die Formen von Überwachung ebenso wie die Mittel und Vermittler (im Sinne von Medien). Was in den Modellen des Panoptikums und der surveillant assemblage, der Disziplinar- als auch der Kontrollgesellschaften ein wenig in Vergessenheit gerät, ist, dass sie im Kontext bestimmter gesellschaftlicher Konstellationen entwickelt wurden und sich eher nicht einfach auf beliebig andere Situationen anwenden lassen. Auch wenn sie durch ihre hohe Abstraktion sehr weitreichende Modelle darstellen, bleiben eher konkrete Fragen unbeantwortet, insbesondere wenn sich die gesellschaftlichen Bedingungen verändert haben. Und das haben sie auch mit der Digitalisierung, die sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts sehr weit entfaltet hat und Gesellschaft auch gegenwärtig ganz entscheidend prägt.
Es lässt sich ohne Zweifel von einer fortschreitenden und unaufhaltsamen Digitalisierung der Gesellschaft sprechen, wenn auch nicht überall auf der Welt mit der gleichen Intensität, so doch durchaus als globales Phänomen, welche grundlegende Bedingungen und Möglichkeiten des Zusammenlebens geändert hat und weiterhin ändern wird. Dabei beeinflusst die Digitalisierung Gesellschaften nicht nur in einigen Aspekten, sondern ist viel eher ein bestimmender Faktor für die Gestaltung von Gesellschaft. Die Bedingungen für soziale Beziehungen, Normen und deren Kontrolle werden auch von diesen Prozessen geprägt. Die Digitalisierung kann als ein epochaler Bruch beschrieben werden, analog vom Wandel hin zu einer Industriegesellschaft oder ihrer postindustriellen Nachfolgerin. Formen und Modi der Vergesellschaftung müssen grundsätzlich neu gedacht werden. Digitalisierung ist also nicht nur eine technische Dimension von Gesellschaft, sondern verändert auch andere Bereiche, soziale Be-ziehungen, Bedingungen und Möglichkeiten für soziale, politische und ökonomische Prozesse.
Wenn man von einer Normativität gesellschaftlichen Lebens ausgeht, dann verändert eine alle Lebensbereiche durchdringende Digitalisierung auch die Aushandlung und Kontrolle von Normen: Denn die Digitalisierung bietet neue Möglichkeiten der Erfassung, Speicherung, Überprüfung, Beobachtung, Messung von gesellschaftlichem Leben als auch dem Leben der Individuen selbst. Das betrifft sowohl den öffentlichen Sektor, seine Verwaltungen, als auch den Staat und seine Organe der Kontrolle – u.a. die Polizei und damit die Verbrechensbekämpfung oder die Prävention –, aber eben auch den individuellen, privaten Bereich – den persönlichen Konsum, Lebensstile, Mobilitäts-muster, Gesundheitsfürsorge, Kommunikations- und individuelle Interaktionsstrategien.
Kann man also von einem digitalen Panoptikum sprechen und die alten Modelle einfach nur einer neuen Wirklichkeit anpassen oder muss man neue Erklärungsmodelle finden, um aktuellen Fragen bezüglich der Überwachung und Kontrolle nachzugehen? Unter welchen Bedingungen findet Überwachung heute eigentlich statt? Wie werden sie analytisch greifbar, d.h. worauf muss man schauen und wie lassen sich mögliche Asymmetrien feststellen? Inwiefern konstituiert sich Macht in den aktuellen Formen der Überwachung (und ist es sinnvoll auch nach anderen Dimensionen zu fragen)? Wie lassen sich diese Kontrollregime adäquat beschreiben? Das sind einige der Fragen, denen ich im folgenden anhand einiger Thesen nachgehen möchte.
Die erste und grundlegende These dabei ist, dass Überwachung selbst als soziales Handeln zu begreifen ist.
Die zweite These ist, dass Überwachung in einer als Konsumgesellschaft zu bezeichnenden Gesellschaft Teil des Konsums ist, also nicht nur der Konsum überwacht wird (wie immer beklagt wird), sondern Überwachung als solches selbst ein Konsumgut ist, mit weitreichenden Konsequenzen für die vermittelnden Formen und Medien.
Der dritte Aspekt, also weniger eine These, dem ich mich widmen möchte, betrifft Normen und Normsetzung. Dieser Punkt ist eng mit den Bedingungen der zweiten These verbunden, in der eine Konsumlogik für Gesellschaft unterstellt wird, die dann folgerichtig auch Normen und Normsetzungen bestimmen würde.
Ausgehend von diesen Thesen möchte ich eine neue, zumindest erweiterte Perspektive auf Überwachung entwickeln, die sich an den sozialen Beziehungen und Dimensionen von Überwachung und Kontrolle orientiert.
Dabei eignet sich der Rückgriff auf das Panoptikum nur bedingt; das viel offenere Konzept einer surveillant assemblage bietet da schon mehr Anschlusspunkte. Beide beschreiben wie Kontrolle ausgeübt wird, in beiden ist Überwachung sichtbar bzw. die Technologien der Kontrolle sind zentral. Die surveillant assemblage bietet die Möglichkeit, die Vernetzungen der Kontrolle besser zu beschreiben, während das Panoptikum als Bild eher starr bleibt und vor allem auf die bestehenden oder mutmaßlichen Machtasymmetrien hinweist. Beide fragen nicht oder nur sehr unzureichend nach den Praktiken der Überwachung selbst, nach den sozialen Beziehungen, denen sich Kontrolle bemächtigt, oder durch die sie ermöglicht werden. Zygmunt Baumans Idee einer Konsumgesellschaft bietet hier einen Weg, die Kontrollgesellschaft als Teil einer anderen Vergesellschaftungsform zu denken. Konsum und Kontrolle hängen bei Bauman eng zusammen, da es die konsumistischen Anreize sind, über die Identität verhandelt und somit auch eine Steuerung dieser Identitäten möglich wird.
So ist der Konsum der Weg über den sowohl Identitäten geformt und kollektiv ausgehandelt, als auch soziale Beziehungen etabliert werden. Dabei sind es die Konsumgüter selbst, die materiellen und immateriellen Dinge an sich, die eine zentrale Rolle dabei einnehmen, wie u.a. die Forschungen des Anthropologen Daniel Miller sehr anschaulich gezeigt haben. Meine These, dass Überwachung ein Konsumgut unter vielen anderen ist, über die u.a. Identität (und damit auch eine Abgrenzung zu anderen) oder Macht verhandelt wird, schließt an diese Überlegungen an. Mit einem Ansatz der von einem Konsum der Überwachung ausgeht, ließe sich zum einen der Blick auf die sozialen Beziehungen der Überwachung und Kontrolle in den Fokus nehmen. Zum anderen würde deutlich werden, wie Kontrolle unter den Bedingungen einer digitalisierten Konsumgesellschaft stattfindet und schließlich auch zeigt, warum Prozesse der Normsetzung eine so zentrale Rolle spielen, wenn es um Macht- und Herrschaftsstrukturen unter den Bedingungen der Digitalisierung geht. Mit dem Konzept des Panoptikums oder der Kontrollgesellschaft lassen sich einige dieser Entwicklungen im Ansatz beschreiben, allerdings bleiben damit viele andere Dimensionen von Überwachung außen vor, mit denen ein viel differenzierteres Bild von Kontrolle, Information, Überwachung und sozialen Beziehungen gestaltet werden könnte. Gary T. Marx hat gezeigt, dass Überwachung aus soziologischer Perspektive weit mehr Dimensionen als nur die Zentralperspektive des Überwachers hat, die Frage nach Macht oder das »Wie« der Kontrolle. In seinem Buch »Windows into the Soul« beschreibt und analysiert er die sozialen Prozesse, die in Überwachungspraktiken versteckt sind und diese ebenso ausmachen; oft mehr als nur eine simple Machtmechanik, in der wenig außerhalb des »Eisenkäfigs der Macht« zu sehen ist.
Erst wenn man diese sozialen Prozesse mitberücksichtigt, z.B. die von Marx aufgeführten Zwecke persönliche Daten zu sammeln – also die Frage stellt, weswegen Personeninformationen gesammelt werden –, erst dann lässt sich, so meiner Annahme nach, eine häufig gestellte Frage beantworten, die in der Debatte zu Digitalisierung, oft gepaart mit großem Erstaunen, Entrüstung oder Abschätzigkeit, gestellt wird: Warum sind die Menschen so unachtsam und machen bei ihrer eigenen Überwachung auch noch so enthusiastisch mit? Diese Frage suggeriert eine ahnungslose Bevölkerung, die zumindest unachtsam, wenn nicht ignorant fahrlässig, mit ihren Daten umgeht und sich kritiklos den Regimen der kapitalistischen Unternehmen zu ergeben scheint. Diese Annahme und auch die dahinführende Frage halte ich für kurzsichtig, auch weil sie sich zumeist auf die Aspekte Datenschutz und Privatsphäre beschränkt, zwei Bereiche, die eine Analyse von Überwachung und Kontrolle unnötig verkürzen. Es bräuchte eine andere Betrachtung von Überwachung und Kontrolle, die einer Analyse mit Blick auf die Modi von Vergesellschaftung und Digitalisierung eine weitere, neue Perspektive hinzufügen kann. Im Folgenden werde ich daher anhand von ausgewählten Beispielen, zum Teil aus eigener empirischer Forschung, verschiedene Dimensionen des »Konsums der Überwachung« erörtern.
Nils Zurawski; 2021
https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5606-0/ueberwachen-und-konsumieren/
https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de
Zur einfacheren Lesbarkeit wurden die Quellenverweise entfernt.