3.3 Selbstüberschätzung, Überoptimismus und Vertrautheit
Viele Verzerrungen in der Einschätzung von Risiken sind nicht nur kognitiv, sondern auch motivational bedingt, indem wir unsere Einschätzungen mit unseren Wünschen, Gefühlen oder einem positiven Selbstbild in Einklang bringen wollen. Vielfach führt dies zu einer Unterschätzung von Risiken, indem wir zum Beispiel
- zu viel Vertrauen haben in unsere Fähigkeiten („Kompetenzillusion“, „Better-than-Average-Effekt“), unsere Urteilssicherheit („Overconfidence Bias“) und das Ausmaß, mit dem wir unsere Umwelt kontrollieren („Kontrollüberschätzung“),
- Einschätzungen anhand unserer emotionalen Bewertungen vornehmen und so Gefahren von Tätigkeiten oder Dingen vernachlässigen, die wir mögen („Affektheuristik“),
- Objekte und Situationen für sicherer halten, die uns nah oder vertraut sind („Vertrautheitseffekt“, an der Börse auch bekannt als „Home-Country-Bias“) sowie
- Risiken in Bezug auf unsere eigene Person verdrängen („unrealistischer Optimismus“, „It won’t happen to me“-Phänomen).
Auch diese Verzerrungen lassen sich gut anhand der Befragung in meinen Seminaren zeigen. So hält sich der Großteil unserer Studierenden für bessere Autofahrer „als der Durchschnitt in diesem Kurs“ (im letzten Semester beispielsweise 74 Prozent). Nicht besser sieht es bei der Urteilssicherheit aus. In einem Versuch wurden die Teilnehmer gebeten, Einschätzungen zu verschiedenen Fragen vorzunehmen, aber nicht als Punktschätzung, sondern als Intervall mit einem Maximal- und einem Minimalwert. Dabei sollte das Intervall so breit gewählt werden, dass der richtige Wert in 90 Prozent der Fälle eingeschlossen ist. Diese Aufgabe spiegelt im Prinzip alltägliche Situationen wider, in denen wir ein Ergebnis zwar nicht präzise vorhersagen wollen, aber bestrebt sind, das Feld möglicher Entwicklungen (zum Beispiel beim Wetter, beim Börsenverlauf oder bei der Dauer einer Autofahrt) ungefähr einzugrenzen. Auf eine Liste entsprechender Fragen wie beispielsweise:
- Wie alt ist Angela Merkel?
- Wie lang ist der Nil?
- Wie viele Seiten hat unser Lehrbuch?
- Wie weit ist die kürzeste Autobahnverbindung von Köln nach Berlin?
- Wie viele Tore schoss Lukas Podolski in der ersten und zweiten Bundesliga insgesamt für den 1. FC Köln?
haben die Studierenden über acht Semester verteilt im Mittel anstelle der geforderten 90 Prozent richtigen Antworten nur 34 Prozent richtige Antworten abgegeben. Die Teilnehmer hatten also eine deutlich zu hohe Zuversicht in ihre Schätzungen und haben die Intervalle viel zu eng gewählt! Bevor Sie sich allerdings darüber lustig machen: Der Mond hat einen Durchmesser von 3475 Kilometern. Wäre Ihr Intervall breit genug gewesen?
Dass diese überzogene Urteilssicherheit keinesfalls nur für Laien, sondern ebenso für Führungskräfte in Unternehmen zutrifft, wird am Beispiel von Versicherungsunternehmen und Banken deutlich:
- Stephan und Kiell baten 36 Investmentbanker einer Großbank um Schätzintervalle. Die Fragen bezogen sich teils auf Allgemeinwissen, teils auf Devisenkurse und teils auf Aktienkurse. Einerseits stieg in den gegebenen Antworten mit zunehmender Expertise die Selbstsicherheit, das heißt, die Schätzintervalle wurden bei den Finanzfragen deutlich enger gewählt als bei den Fragen zum Allgemeinwissen. Andererseits waren aber nur 25 Prozent der abgegebenen Schätzungen korrekt (noch weniger als bei unseren Studierenden!), und ausgerechnet bei den Aktienkursen wurde mit 17 Prozent die geringste Trefferrate erzielt.
- Kahneman bat 48 Underwriter (also die Spezialisten bei Versicherern, wenn es um die Abschätzung und Bewertung von Risiken geht), eine Reihe von Fällen zu analysieren. Zugleich ließ er deren Führungskräfte schätzen, wie hoch die Bewertungen (und damit die vorgeschlagenen Versicherungsprämien) ihrer Underwriter voneinander abweichen. Während die meisten Führungskräfte durchschnittliche Abweichungen von höchstens zehn Prozent erwarteten, betrug die tatsächliche mittlere Differenz der durch die Underwriter kalkulierten Prämien 55 Prozent!
Die Auswirkung von vermeintlicher Kontrolle lässt sich anekdotisch recht gut erläutern durch Erfahrungen, die wir während eines halbjährigen Aufenthalts in Florida gemacht haben. Während wir beim Schwimmen am benachbarten Strand oft sehr ängstlich vor möglichen (unkontrollierbaren) Haiangriffen waren, haben uns die dort ebenfalls auftretenden Strömungen (Rip Currents) kaum beunruhigt, konnte man diese doch als guter Schwimmer vermeintlich beherrschen. Dabei liefert die Statistik ein genau umgekehrtes Bild: mit nur 0,1 bis 0,5 tödlichen Haiangriffen im langjährigen Jahresmittel, aber einer 40- bis 100-mal höheren Zahl an Ertrunkenen aufgrund der ablandigen Strömungen. Darunter sind viele sportliche junge Männer, die ihre Fähigkeiten überschätzt haben. Auch Genickbrüche durch die Brandung – selbst in moderaten Wellen – fordern deutlich mehr Opfer als der gefürchtete Hai.
Beim selben Aufenthalt ließ sich auch die Wirkung von „Vertrautheit“ auf die Einschätzung von Gefahren beobachten: Viele unserer Freunde und Nachbarn versicherten uns, sie würden Europa aus Sorge um ihre Sicherheit nicht besuchen. Besonders prägend waren dabei die noch frischen Nachrichten über eine Reihe von Terroranschlägen (vgl. auch den vorherigen Abschnitt) sowie besonders über die Silvesternacht 2015 am Kölner Hauptbahnhof, in der es zu zahlreichen sexuellen Übergriffen auf Frauen durch junge Männer (häufig mit Migrationshintergrund) gekommen war, und über die ausführlich in den amerikanischen Medien berichtet wurde. Über die Sicherheit ihres eigenen Umfeldes machten sich unsere Gesprächspartner dagegen wenig Sorge. Und das in einem Land, in dem zur Zeit unseres Aufenthalts die Zahl der Verkehrsopfer um den Faktor 3, die der Tötungsdelikte (nicht zuletzt durch die hohe Verbreitung von Schusswaffen) um den Faktor 5 bis 7 und die der Drogenopfer um den Faktor 12 höher war als in Deutschland.
Auch in der oben dargestellten Bevölkerungsbefragung zeigten sich deutliche Abweichungen, wenn nicht nach dem Risiko „in der Bevölkerung“, sondern nach der „persönlichen Gefährdung“ gefragt wurde. Dabei wurden insbesondere solche Risiken als weniger wahrscheinlich eingeschätzt, die vermeintlich kontrollierbar sind − wie Verlust der Fahrerlaubnis, Scheidung, Alkoholsucht, psychische Erkrankung oder aber mit einem Straftatverdacht konfrontiert zu werden.
Wenn wir nun in unseren Einschätzungen über uns selbst so regelmäßig danebenliegen, warum lernen wir so wenig daraus und passen unsere Einschätzung im Laufe der Zeit nicht an?
Zum einen liegt das daran, dass eine realistische Selbsteinschätzung schwierig ist. Viele Ergebnisse und Rückmeldungen sind mehrdeutig und nicht in einfache Kategorien wie „richtig“ oder „falsch“ einzuordnen. Aus unserem persönlichen Umfeld erfahren wir in der Regel mehr Anerkennung als Kritik, und wenn wir einmal von einer Sache überzeugt sind, finden wir immer wieder bestätigende Informationen dazu („Confirmation Bias“). Im Nachhinein glauben wir fälschlicherweise, dass wir unsichere Ereignisse richtig vorhergesehen hätten („Rückschaufehler“) und finden scheinbar logische Erklärungen für überraschende Entwicklungen („Narrative Verzerrung“). So erliegen wir der Illusion, die Welt besser zu verstehen und Entwicklungen zutreffender vorhersagen zu können, als es tatsächlich der Fall ist. Und schließlich wollen wir uns und unsere Zukunft auch gar nicht unbedingt in einem neutralen Licht sehen, sondern – wie schon dargestellt – unsere Zuversicht und unser positives Selbstbild aufrechterhalten. Ein Bestreben, das nicht zuletzt unserer psychischen Gesundheit zuträglich ist.
3.4 Der Effekt der eigenen Erfahrung
Das heißt nicht, dass wir immun gegen jegliche Art von Erfahrung sind. Gerade auch in der Risikoeinschätzung spielen persönliche Erfahrungen eine große Rolle, was sich wiederum gut mit der Abrufbarkeit zugehöriger Informationen erklären lässt.
In unserer oben beschriebenen Studie haben wir erfasst, inwieweit ein bestimmtes negatives Ereignis bereits selbst erlebt wurde oder zumindest im näheren persönlichen Umfeld eingetreten ist. Im Ergebnis zeigt sich, dass in Folge so „erlebter“ Gefahren auch die eigene Gefährdung deutlich höher eingeschätzt wird. Das gilt in besonderem Maße für solche Risiken, die ansonsten als sehr unwahrscheinlich angesehen werden. Auch Krankheitsrisiken – wie zum Beispiel psychische Erkrankungen – rücken durch Erfahrungen im persönlichen Umfeld verstärkt ins Bewusstsein.
Abb. 2.3 zeigt, in welchem Ausmaß die Befragten sich persönlich unterschiedlichen Risiken ausgesetzt sehen in Abhängigkeit davon, ob sie diese selbst oder in ihrem direkten Umfeld innerhalb der letzten fünf Jahre erlebt haben (blaue Linie) oder nicht (rote Linie).
Abb. 2.3
Einschätzung der Gefährdung in Abhängigkeit von der persönlichen Erfahrung. (Quelle: Müller-Peters und Gatzert 2020, S. 27)
Eine zweite (hier nicht abgebildete) Stichprobe wurde nicht nach dem Grad der persönlichen Gefährdung, sondern nach der Häufigkeit solcher negativen Ereignisse in der Bevölkerung insgesamt gefragt. Auch in diesem Fall wurden die Gefahren deutlich höher eingeschätzt, wenn zuvor eigene Erfahrungen mit den Ereignissen.
Negative Erfahrung – sei es unmittelbar oder aber mittelbar aus dem persönlichen Umfeld – führt also ganz im Sinne der Verfügbarkeitsheuristik dazu, dass wir Risiken höher einschätzen. Interessanterweise ist dieser Effekt unabhängig davon, ob die jeweilige Gefahr im Vergleich zu ihrer tatsächlichen Häufigkeit unter- oder überschätzt wird. Erfahrung führt also zu einem erhöhten, nicht aber notwendigerweise zu einem realistischeren Gefahrenbewusstsein.
3.5 Früher war alles besser?
Und wie ist es, wenn wir Risiken wie Kriminalität, Arbeitslosigkeit oder Verkehrsunfälle im Vergleich zur Vergangenheit einschätzen sollen? Wohl jeder von uns ist vertraut mit Aussagen wie „Heutzutage kann man vermutlich kaum noch …“ oder „früher war es noch nicht so gefährlich …“.
In unserer Studie haben wir die Entwicklung von sechs unterschiedlichen Gefahren im Zeitablauf beurteilen lassen. Zwei der abgefragten Risiken hatten sich im betreffenden Zeitraum negativ entwickelt, die Mehrheit dagegen positiv − zum Teil sogar wie im Falle der tödlichen Verkehrsunfälle (Rückgang von 34 Prozent) und der Arbeitslosigkeit (Rückgang um 45 Prozent) sehr positiv.
Wie die Ergebnisse in Abb. 2.4 zeigen, wichen die Einschätzungen der Befragten davon erheblich in negativer Richtung ab. Insbesondere (aber nicht nur) in den Fragen zur Kriminalität waren die Einschätzungen der Befragten bei weitem zu pessimistisch, und zwar weitgehend unabhängig von der realen Entwicklung.
Abb. 2.4
Einschätzung von Entwicklungen im Zeitverlauf. (Quelle: Müller-Peters und Gatzert 2020, S. 42)
Das wird besonders deutlich am Beispiel der Wohnungseinbrüche, für die wir die Hälfte unserer Stichprobe zu einem Zeitraum (nämlich 20 Jahre) befragt hatten, in dem die faktische Entwicklung genau gegensätzlich war. Die Antworten unterscheiden sich in den beiden Varianten faktisch überhaupt nicht, sondern waren gleichermaßen fast durchgängig negativ. Aber auch so fundamentale positive Entwicklungen wie am Arbeitsmarkt und der Verkehrssicherheit haben nicht wirklich Eingang in das Bewusstsein der Bevölkerung gefunden.
Ähnliche Beobachtungen lassen sich auch in anderen Bereichen machen:
- Ist Ihnen bewusst, dass wir auch bei weltweiter Sicht in einer der friedlichsten Phasen (wenn nicht der friedlichsten Phase) der gesamten Menschheitsgeschichte leben, sowohl was Gewaltkriminalität als auch die Zahl der Kriegsopfer angeht?
- Viele Menschen, die (wohl zu Recht) besorgt sind über den Klimawandel, sind äußerst verwundert, wenn sie hören, dass die Treibhausgasemissionen in Deutschland bereits deutlich gesunken sind − von 1990 bis 2019 um immerhin 35 Prozent und bis 2020 sogar um über 40 Prozent (wobei der Sprung zwischen 2019 und 2020 allerdings zum Teil einem pandemiebedingten Sondereffekt zuzuschreiben ist).
- In unserer Befragung bejahten nur 40 Prozent die Frage
„Haben sich die Lebensbedingungen der Menschen in den meisten Ländern der Welt in den letzten 30 Jahren verbessert?“
Mehr als 30 Prozent gingen hingegen sogar von einer Verschlechterung aus. Dabei hat sich laut den Statistiken der Vereinten Nationen seit 1990 Großartiges getan: Die Kindersterblichkeit hat sich mehr als halbiert, der Anteil der unterernährten Menschen in den Entwicklungsländern ist von 23 Prozent auf 13 Prozent gefallen, die Zahl der in extremer Armut lebenden Menschen ist von 1,9 Milliarden auf 836 Millionen gefallen und die Zahl der Erwerbstätigen, die der sogenannten Mittelschicht angehören (also von mehr als vier US-Dollar pro Tag leben), hat sich fast verdreifacht. Auch wenn sicher jedes tote Kind und jeder Hungernde zu viel ist, sind das große Erfolge!
Die Ergebnisse zeigen: Im Rückblick neigen wir dazu, die Vergangenheit zu verklären, während uns andererseits die Medien im „Heute“ laufend mit schlechten Nachrichten konfrontieren. Dies führt zu übertriebenen Sorgen und ist zugleich ein bedenklicher Motor von Politikverdrossenheit, Demokratiemüdigkeit, Fatalismus oder aber der Befürwortung populistischer oder extremistischer Positionen.
3.6 Elementarrisiken: Gehypt oder verdrängt
Abschließend soll noch ein Blick auf die Wahrnehmung von Elementarrisiken geworfen werden. Diese Risiken werden nicht zuletzt aufgrund einer Häufung von Hochwasserereignissen in den letzten Jahren und der Erwartung ihrer weiteren Zunahme in Deutschland infolge des Klimawandels derzeit besonders intensiv diskutiert. Dabei spielt auch die Frage nach einer Pflichtversicherung eine große Rolle, da die Versicherungsdichte in Bezug auf Elementarschäden mit 46 Prozent relativ gering ist, und nach größeren Schadenereignissen immer wieder der Staat einspringen musste.
Anzunehmen ist, dass bei der Einschätzung von Elementarrisiken gleich mehrere der beschriebenen Effekte zusammenwirken. Zum einen greift hier die oben schon beschriebene Tendenz, dass solche sehr unwahrscheinlichen Ereignisse entweder überschätzt werden (Möglichkeitseffekt), in anderen Fällen aber überhaupt keine Beachtung finden (WYSIATI). Zudem zeigen die obigen Ergebnisse der Bevölkerungsumfrage, dass mögliche Sachschäden den meisten Bürgern tendenziell weniger präsent sind als Risiken „für Leib und Seele“. Und schließlich bietet der Bereich der Naturgefahren ein dankbares Feld für Verdrängung und Abwehrreaktionen, sei es durch Verleugnung der Gefahr („wir wohnen nicht am Fluss“, „in unserer Gegend ist so etwas noch nie passiert“) oder einfach durch unreflektierten Optimismus („It won’t happen to me“).
In Verbindung mit diesen Einflüssen zeigt sich in der Regel ein starker zyklischer Effekt, wonach die öffentliche Aufmerksamkeit für solche Risiken in Folge großer Schadenereignisse massiv ansteigt („Hype“ oder „Verfügbarkeitskaskade“), bevor diese dann nach einem gewissen Zeitabstand wieder aus den Medien – und unserem Bewusstsein – verschwinden. Eine entsprechende Zyklizität ließ sich zum Beispiel in den USA anhand der Nachfrage nach Flutdeckungen aufzeigen.
Aber auch auf der Angebotsseite scheinen entsprechende Tendenzen zu bestehen, indem Angebotspreise in Folge von eingetretenen Großereignissen trotz vorab vorhandener Modelle nachkalibriert und Deckungskapazitäten reduziert werden, oder indem Anbieter ganz aus dem Markt ausscheiden. Auch die vermeintlich „rationale“, aktuariell kalkulierende Angebotsseite ist also gegenüber solch subjektiven Verzerrungen nicht immun.
Über diese primär wahrnehmungsbedingten Effekte hinaus dürfte die nach wie vor (zu) geringe Versicherungsdichte gegenüber Elementargefahren auch durch unsere „Trägheit“ bei Entscheidungen begünstigt sein, zumindest solange eine Elementardeckung nicht verpflichtend ist oder zumindest nicht als Default-Lösung in die Gebäudeversicherung aufgenommen wird. Der mögliche fördernde Effekt einer solchen „Default-Lösung“ − also einer standardmäßigen Voreinstellung, die aber abgewählt werden kann − ist leicht an der Versicherungsdichte in Baden-Württemberg zu erkennen, die mit 94 Prozent weitaus höher als in anderen Bundesländern ist. Grund ist, dass in Baden-Württemberg eine Pflichtversicherung bestand und nur die wenigsten Hausbesitzer sich aktiv für eine Kündigung derselben entschieden haben, während in den meisten anderen Bundesländern eine aktive Entscheidung für einen Einschluss der Elementarrisiken notwendig war.
Und schließlich dürfte bei manchen Hausbesitzern auch die (mit Blick auf vergangene Ereignisse durchaus realistische) Sichtweise, dass im Katastrophenfall der Staat schon einspringen werde, einer Absicherung auf eigene Kosten entgegenstehen.
4 Empfehlungen für besseres Entscheiden
Wir sehen also: Irren ist im wahrsten Sinne menschlich. Heuristiken und Urteilsverzerrungen sind tief in unserer Natur verwurzelt und lassen sich (wenn überhaupt) auch bei wichtigen Entscheidungen nur schwer bändigen. Versicherungsvertriebe kennen und nutzen das: Manche Versicherungen, die leicht vorstellbare Risiken absichern, lassen sich vergleichsweise einfach verkaufen, während die Absicherung anderer, objektiv viel bedeutenderer Risiken oft intensiver Aufklärungsarbeit bedarf. So werden die Gefahren durch Krankheiten tendenziell unterschätzt, die von Unfällen überschätzt. Die Gefahren durch Terrorismus, Flugreisen und Autoverkehr werden (in dieser Reihenfolge) drastisch überschätzt, die durch ungünstige Ernährung hingegen unterschätzt.
Politisch resultiert daraus eine interessante Diskussion, ob staatlicherseits eher solche Gefahren zu bekämpfen sind, die objektiv eine hohe Gefährdung darstellen, oder solche, die zu besonderen Ängsten in der Bevölkerung führen. „Freie Bleistifte für Alle“ anstelle exzessiver Terrorismusbekämpfung (oder welches andere Risiko im Moment gerade gehypt ist) würde nicht nur den Etat entlasten, sondern zugleich auch mehr zur „Inneren Sicherheit“ beitragen, sterben bei uns doch deutlich mehr Menschen an Erstickung durch verschluckte Kugelschreiberteilchen als an Terroranschlägen, Schusswaffen und Blitzschlägen zusammen.
Einige Grundregeln für eine realistischere Einschätzung von Risiken und in Folge eines realistischeren Risikomanagements – auch im Privatleben – könnten lauten:
- Überwinden Sie Ihre Abneigung gegen Zahlen! Seien Sie vorsichtig mit „Intuition“ und „Gefühl“ und suchen Sie soweit möglich nach belastbaren statistischen Grundlagen, bevor Sie wichtige Entscheidungen fällen.
- Vernachlässigen Sie dabei nicht die Basisrate. Fragen Sie sich also nicht nur, wie oft etwas passiert, sondern auch, auf Basis von wie vielen Fällen insgesamt, um das tatsächliche Risiko abzuschätzen, betroffen zu sein.
- Berücksichtigen Sie nicht nur die „bildhaften“ und medial präsenten Gefahren, sondern denken Sie vor allem auch an die großen, „stillen“ Risiken wie Verlust der Berufsfähigkeit oder das Pflegerisiko im Alter.
- Bleiben Sie dabei realistisch und lassen Sie sich nicht von Überoptimismus, Verdrängung oder Wunschdenken leiten. Wenn Sie meinen, sie können ein Risiko kontrollieren, dann hinterfragen Sie das noch einmal kritisch. Und wenn Sie sich – zum Beispiel an der Börse – als Experte fühlen, bedenken Sie, wie zuverlässig Ihre Erfahrung wirklich ist, um das gegebene Problem einschätzen zu können, und erinnern Sie sich dabei an unsere Studenten, den Mond und an Lukas Podolski.
- Verlassen Sie sich auch nicht zu sehr auf andere „Experten“. Auch diese unterliegen den gleichen Urteilsfehlern. Manchmal können die Effekte geringer ausfallen als bei Laien, aber keineswegs immer, denken Sie beispielsweise an unsere Underwriter und Investmentbanker.
- Lassen sie sich nicht von Katastrophenmeldungen und medialen Hypes mitreißen: Ist das aktuelle Thema wirklich für Sie so relevant und bedrohlich? Vergessen Sie dabei aber diejenigen Risiken nicht, die gerade im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen.
- Widerstehen Sie der Versuchung, die Vergangenheit zu verklären und die Gegenwart zu beklagen. Vieles hat sich im Vergleich zu früher verbessert, viele Gefahren haben sich reduziert.
- Seien Sie vollständig: Überlegen Sie zum Beispiel beim Abschluss einer Versicherung, welche Risiken es außer den in der Werbung dargestellten oder durch den Vermittler beschriebenen noch geben könnte, und ob sie diese nicht auch absichern möchten. Oder greifen Sie gleich zu einer (in Deutschland leider nicht sehr verbreiteten) Allgefahrenversicherung. Hier werden alle nicht eingeschlossenen Risiken explizit aufgeführt, sodass kein Raum bleibt für „WYSIATI“.
- Bewerten Sie, wieweit ein Risiko eine wirklich essenzielle (finanzielle) Gefährdung für Sie darstellt, und lassen Sie Risiken, die nicht wirklich relevant sind „links liegen“. Denken Sie dabei breit und nicht eng, also langfristig und über verschiedene Risikokategorien hinweg statt nur in Bezug auf einen einzelnen möglichen Schaden. Am Ende ist es günstiger, kleine Schäden selbst zu tragen, als dauerhaft Versicherungsbeiträge dafür zu zahlen.
- Setzen Sie sich dazu Regeln, zum Beispiel „keine Absicherung von Bagatellschäden“ oder „immer die höchste Selbstbeteiligung“. Dabei kann die Grenze je nach finanzieller Lage durchaus hoch liegen: Brauchen Sie wirklich die Vollkasko für Ihr vielleicht schon etwas älteres Auto, oder könnten Sie sich zur Not auch so Ersatz kaufen? Bei Risiken wie Wegfall des Einkommens oder Verlust des Hauses sieht die Rechnung dann wahrscheinlich anders aus, insbesondere wenn die Hypothek noch nicht abgezahlt ist.
- Der breite Blick gilt auch für andere Arten der alltäglichen „Risikovorsorge“. Vielleicht es ja besser, sich alle zehn oder zwanzig Jahre einmal das Fahrrad oder den Geldbeutel stehlen zu lassen, als ständig verängstigt, misstrauisch oder übervorsichtig durch das Leben zu „schleichen“?
- Berücksichtigen Sie auch, wie häufig sie tatsächlich einem Risiko ausgesetzt sind: Einmal nicht angeschnallt oder ohne Kindersitz Auto fahren oder einmal über die rote Ampel laufen kann ein durchaus überschaubares Risiko sein. Wenn Sie jeden Tag über die rote Ampel laufen, kumuliert die Wahrscheinlichkeit und das Risiko kann ganz erheblich werden.
- Wenn Ihnen die Absicherung eines essenziellen materiellen Risikos wirklich wichtig ist, dann lassen Sie das Argument „die Versicherung kann ich mir nicht leisten“ nicht gelten, denn dann können Sie sich in Wirklichkeit das Gut selbst nicht leisten. Wählen Sie also Ihr Haus, Ihr Auto oder Ihre Yacht lieber eine Nummer kleiner aus. Gleiches gilt im übertragenden Sinne auch für die Absicherung des Einkommens durch eine Berufsunfähigkeits- oder auch Risikolebensversicherung. Ist die zu teuer, dann passen Sie ihren Lebensstil an, nicht ihre Absicherung.
- Und schließlich: Seien Sie vorsichtig in Gruppen. Auch wenn die durchschnittliche Einschätzung einer möglichst großen Zahl von Menschen durchaus besser sein kann als ein Einzelurteil, so unterliegen doch die meisten Menschen gleichgerichteten Verzerrungen, sodass ein „Ausgleich“ durch die Gruppe nicht unbedingt gegeben ist. Darüber hinaus können gruppendynamische Effekte dazu führen, dass Selbstüberschätzung und überzogene Urteilssicherheit noch weiter zunehmen und in Folge die Einschätzungen und Entscheidungen noch extremer werden.
Die Auflistung zeigt: Es ist schwer, aber nicht unmöglich, die Einschätzung von Risiken – sei es beruflich oder im Privatleben – auf eine realistischere Grundlage zu stellen. Und das bedeutet keinesfalls „immer mehr“ Ängste, Vorsicht und Absicherung, sondern ebenso, unnötige (Vor-)Sorge(n) abzubauen und sich nicht vor dem Falschen zu fürchten und so gleichzeitig gelassener und rationaler unsere komplexe Umwelt zu bewältigen.
Noch besser wäre es natürlich, direkt im Rahmen der Schulbildung eine bessere Risikokompetenz zu vermitteln. Aber auch Versicherer und deren Berater können durch passende Produkte und vor allem durch eine aktive und realistische Aufklärung eine wichtige Rolle spielen – und sind dazu aufgrund der gesetzlichen Vorgaben zur Risikoanalyse und -beratung auch zunehmend in der Pflicht.
Müller-Peters, H. (2023). Risikowahrnehmung und Risikowirklichkeit. In: Arnold, R., Berg, M., Goecke, O., Heep-Altiner, M., Müller-Peters, H. (eds) Risiko im Wandel. Springer Gabler, Wiesbaden.
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37071-8_2
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de
Zur einfacheren Lesbarkeit wurden die Quellen- und Literaturverweise entfernt.