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Risikowahrnehmung und Risikowirklichkeit – Teil 1

1. Vorab: Können Sie „Zahlen“?

Als Leser dieses Buches werden Sie möglicherweise Wirtschaftswissenschaften oder ein anderes zahlenlastiges Fach studieren, an einer Hochschule arbeiten, als Risikomanager oder für einen Versicherer tätig sein oder anderweitig regelmäßig mit großen Beträgen, Formeln, Statistiken und Wahrscheinlichkeiten umgehen. Aber Hand aufs Herz: Wie sicher sind Sie im Umgang mit Zahlen und Statistiken wirklich?

Zum Einstieg in meine Vorlesungen konfrontiere ich meine Studierenden gern mit Fragen wie:

  • Wie viel ist eine Milliarde?
  • Wie wahrscheinlich ist bei einem Wurf mit zwei Würfeln ein Pasch?
  • Welcher Anteil der Todesfälle in Deutschland beruht auf Verkehrsunfällen?
  • Wie hat sich die Kriminalität in den letzten 20 Jahren entwickelt?
  • Wie gut fahren Sie im Vergleich zu Ihren Freunden und Kollegen Auto?
  • Welchen Durchmesser hat der Mond?

Falls Sie beim Lesen der Fragen bereits über mögliche Antworten nachgedacht haben, dann schreiben Sie diese am besten auf, bevor Sie weiterlesen. Die Auflösungen werden Sie im Laufe dieses Kapitels finden, und Sie werden sich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht nur über die dort beschriebenen Antworten „der Anderen“ wundern, sondern ein wenig auch über sich selbst.

2. Begrenzte Informationsverarbeitung und wie wir damit umgehen

Egal ob als wahlberechtigter Bürger, als Konsument, im Beruf oder im Privatleben: Wir sind ständig damit konfrontiert, neue Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten, Einschätzungen vorzunehmen und Urteile zu bilden, Risiken zu analysieren und die möglichen Konsequenzen unserer Entscheidungen abzuwägen. Das heißt auch, dass wir stets – bewusst oder unbewusst – mit Wahrscheinlichkeiten und großen Zahlen zu tun haben. Wie stehen wir zur Staatsverschuldung? Sollte das Rentenniveau angepasst werden? Führt die Entscheidung für ein Rendezvous, für ein neues Produkt, für ein Reiseziel oder für eine Investition zum erhofften Ergebnis? Und ist es sicher genug, erst eine Stunde vor Beginn zum Vorstellungsgespräch aufzubrechen, mit dem Motorrad in den Urlaub zu fahren, abends die Abkürzung durch den Park zu nehmen, sich gegen Corona impfen zu lassen oder trotz möglicher Ansteckungsgefahren eine Party zu besuchen? Oder sollen wir lieber früher losfahren, einen Zug nehmen, den Umweg in Kauf nehmen und ungeimpft zuhause bleiben?

Die Evolution hat uns mit einem wunderbaren Gehirn ausgestattet, das unvergleichlich leistungsfähig ist und das nicht zuletzt die hoch komplexe Zivilisation erschaffen hat, in der wir leben. Und gleichzeitig ist es anscheinend viel zu limitiert, um sich in diesem komplexen Umfeld zurechtzufinden.

So scheiterten in einer Studie, die wir zum Thema Zahlenverständnis und Risikowahrnehmung durchgeführt haben, fast zwei von drei Befragten an der Aufgabe, das Wievielfache einer Million eine Milliarde sei (korrekt ist, Sie haben es sicher schon erkannt, das Tausendfache). Sogar nur 22 Prozent konnten richtig antworten, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, beim Münzwurf zweimal hintereinander „Zahl“ zu werfen (nämlich ein Viertel), nur 16 Prozent tippten bei der Frage nach dem Pasch richtig auf „ein Sechstel“. Noch viel schlechter fallen die Ergebnisse aus, wenn es um eine Billion geht (mittlerweile leider eine gängige Zahl, wenn es um das Ausmaß der Staatsverschuldung geht), oder auch um exponentielle Entwicklungen: Angesichts der Corona-Pandemie haben wir in einer weiteren Studie das Verständnis solcher exponentiellen Entwicklungen, wie sie zum Beispiel durch den Reproduktionswert R dargestellt werden, überprüft. Je nach Steigerungsgrad und Periodenanzahl lagen die Schätzungen der Befragten um den Faktor drei bis 560.000 unterhalb des wahren Wertes.

Die obigen Beispiele verdeutlichen, wie schwer uns die realistische Einschätzung von Risiken fällt. Unser Gehirn ist zwar nach mehr als einer halben Milliarde Jahre evolutionärer Entwicklung für viele Höchstleistungen bestens ausgerüstet. Wir sind großartig im Erkennen von Emotionen, im Umgang mit Sprache, aber auch wenn es um spontane Einschätzungen von Situationen geht oder wenn wir durch die Beobachtung von anderen Menschen hinzulernen. Der Umgang mit großen Zahlen und die Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten gehört aber nicht zu unseren Stärken: Zwar sind wir im Prinzip sehr leistungsfähig, wenn es um analytisches Denken geht; es ist aber anstrengend, zeitraubend und wird von den meisten Menschen als aversiv erlebt – denken Sie dafür einfach an die Statistik- und Mathematikklausuren Ihrer Schul- oder Studienzeit zurück. Daher verzichten wir – zumindest außerhalb von Prüfungen – gern auf komplexe Kalkulationen und greifen lieber nach Faustregeln und einfachen Näherungen, um unsere Probleme schnell und dennoch effektiv in den Griff zu bekommen. Mit Hilfe solcher „Heuristiken“ können wir den Alltag selbst in der heutigen, komplexen Welt recht gut bewältigen. Zugleich unterliegen wir damit aber auch einer ganzen Reihe von systematischen – und damit in Grenzen auch vorhersagbaren – Fehlern in unseren Einschätzungen, die uns wiederum oft zu falschen Bewertungen und Entscheidungen verleiten.

Die Gefahr von Fehleinschätzungen ist besonders dann gegeben, wenn es um die Einschätzung von komplexeren Risiken geht. Während uns die Evolution ganz hervorragend vorbereitet hat, auf unmittelbare Bedrohungen wie SchlangeSpinne oder Säbelzahntiger zu reagieren, fällt uns die realistische Einschätzung und damit ein halbwegs rationaler Umgang mit abstrakten, in der Zukunft liegenden Bedrohungen schwer. Und genau um solche dreht es sich beim Thema Risikovorsorge und Versicherung in der Regel.

Ein vereinfachtes, aber sehr hilfreiches Modell, das uns hilft, zahlreiche vom rationalen „Idealbild“ abweichende Erwartungen, Bewertungen und Verhaltensweisen zu verstehen, ist die Annahme zweier unterschiedlicher kognitiver Systeme. Hierzu haben zahlreiche Forscher ähnliche Modelle und Begrifflichkeiten vorgeschlagen. So sprechen Petty und Cacioppo von „peripherer“ und „zentraler Informationsverarbeitung“, Stanovich und West haben die Begriffe „System 1“ und „System 2“ vorgeschlagen (diese Terminologie fand insbesondere durch die populären Arbeiten von Kahneman eine große Verbreitung), und die Neuropsychologen und Werbeforscher Scheier und Held nutzen die etwas selbstredendere Bezeichnung „Pilot“ und „Autopilot“.

Der „Autopilot“ respektive „System 1“ bezeichnet den evolutionär älteren, weitgehend automatischen und vielfach unbewussten Teil unserer Informationsverarbeitung und Handlungssteuerung. Darin lassen wir uns stark von Emotionen leiten, greifen auf einfache Heuristiken zurück (dazu zählen auch Gewohnheiten oder die Befolgung sozialer Normen) und vernachlässigen nicht sofort zugängliche Informationen. Der „Pilot“ oder „System 2“ bezeichnen dagegen unsere bewusste, kontrollierte und explizite Informationsverarbeitung.

Das Problem sind nun die unterschiedlichen Kapazitäten dieser beiden Systeme und die Energie, die sie uns abverlangen. Während System 1 weitgehend mühelos arbeitet und auf eine enorm hohe Verarbeitungskapazität zurückgreifen kann, verfügt System 2 über weitaus geringere Ressourcen, verlangt Konzentration und Selbstkontrolle und verbraucht in hohem Maße Energie. Durch diese ungleichen Voraussetzungen und unser durchaus rationales Bestreben, jegliche (auch geistige) Anstrengungen zu vermeiden, wird unser Verhalten weitaus mehr durch System 1 als durch System 2 gesteuert. Viele Vorschläge von System 1 winkt unser bewusstes System 2 einfach durch; Kahneman spricht hier vom „faulen Kontrolleur“.

Und selbst sehr „bewusst“ getroffene Entscheidungen unterliegen immer noch einem Einfluss durch System 1, das fortlaufend „dazwischenfunkt“ und „mitreden will“, sodass auch vermeintlich abwägend getroffene Einschätzungen und Entscheidungen kaum frei von solchen vielfach verzerrenden Einflüssen sind.

3. Verzerrte Risikoeinschätzung

Einen guten Eindruck, wie stark solche Verzerrungen gerade auch bei der Einschätzung von Risiken sein können, vermitteln die Antworten meiner Studenten und Studentinnen zur bereits eingangs gestellten Frage zu den Verkehrstoten: Welcher Anteil der Todesfälle in Deutschland beruht auf Verkehrsunfällen?

Was haben Sie selbst geschätzt? In Deutschland wurden im Schnitt der letzten Jahre nur etwa drei Promille aller Todesfälle durch Verkehrsunfälle verursacht. Die Schätzungen unserer Seminarteilnehmer – übrigens durchgehend in den höheren Semestern des Bachelor- oder Masterstudienganges und fast alle mit mehrjähriger Berufserfahrung in der Versicherungsbranche – weichen massiv von diesen Ist-Werten ab. Die Spanne der mittleren Schätzwerte (Median) für die Verkehrstoten liegt je nach Semester zwischen neun und 20 Prozent! Das bedeutet im Allgemeinen eine Überschätzung um den Faktor 50, und selbst der beste Kurs lag noch um mehr als das Zehnfache über dem realen Wert.

Als Vergleichswert frage ich jeweils die Wahrscheinlichkeit ab, an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zu sterben. Die faktische Todesrate durch Herzinfarkt ist in Deutschland mehr als zehnmal so hoch wie die durch Verkehrsunfälle und die durch Herz-Kreislauferkrankungen insgesamt mit 34 Prozent aller Todesfälle sogar ca. 100-fach höher. Die durchschnittlichen Schätzungen in den Seminaren lagen bei 25 Prozent und damit erheblich unterhalb des wahren Wertes.

Wir sehen also: Selbst „angehende“ Experten sind vor krassen Fehleinschätzungen nicht gefeit. Dabei handelt es sich hier noch nicht einmal um eine schnelle Ad-Hoc-Einschätzung, sondern um eine relativ konzentrierte Antwort im Rahmen einer Lehrveranstaltung an der Hochschule. Worauf lassen sich nun solche massiven Urteilsfehler bei der Einschätzung von Risiken zurückführen?

Eine ganz wesentliche Heuristik bei der Einschätzung von Risiken besteht nach Kahneman darin, dass wir aufgrund unserer kognitiven Beschränktheit und Bequemlichkeit die anfängliche, komplizierte Frage nach der Häufigkeit oder Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses ersetzen durch die viel simplere Frage, wie leicht wir uns ein entsprechendes Ereignis vorstellen können.

Aufgrund dessen überschätzen wir Gefahren, die besonders leicht aus unserem Gedächtnis abrufbar sind („Verfügbarkeitsheuristik“) − also beispielsweise besonders „bildhafte“, emotional aufwühlende und medienpräsente Ereignisse. Weitere Faktoren, die die Abrufbarkeit und damit die Einschätzung eines Risikos erhöhen, sind die Aktualität von oder die eigene Erfahrung mit entsprechenden Ereignissen (vgl. auch Abschn. 2.3.4 und 2.3.6). Abstrakte statistische Daten dagegen sind ungeachtet ihres weitaus höheren Informationsgehaltes deutlich schwerer aus unserem Gedächtnis abrufbar und werden damit bei der Urteilsfindung eher vernachlässigt. So sind im obigen Beispiel Autounfälle deutlich medienpräsenter als der „stille“ Herztod.

Auch die Frage, wie „typisch“ uns etwas vorkommt, kann die schwierige Frage nach Häufigkeiten und Anteilswerten ersetzen. Beispiele für diese „Repräsentativitätsheuristik“ sind:

  • Über Flugzeugabstürze wird jeweils ausführlich in allen Medien berichtet, sodass uns das Risiko beim Fliegen hoch erscheint. Dabei wird aber die große Gesamtheit aller Flüge übersehen, von denen die allermeisten ohne Unfall verlaufen.
  • Als Ursache von Verkehrsunfällen erscheint uns Alkoholeinfluss sehr plausibel. Dennoch ist der Anteil von Alkoholfahrten am gesamten Unfallgeschehen überraschend gering, weil jeweils nur ein sehr kleiner Teil aller Autofahrenden unter Alkoholeinfluss steht.
  • In meinen Seminaren schätzen die Teilnehmer regelmäßig die Anzahl jährlicher Morde, wobei die eine Teilgruppe die Morde in Frankfurt und die andere Teilgruppe die Morde in Hessen schätzt. Regelmäßig liegt die Zahl der geschätzten Morde für Frankfurt deutlich höher (meist um den Faktor 1,5 bis 2), obwohl das faktische Verhältnis natürlich umgekehrt sein muss, da Frankfurt ja ein Teil von Hessen ist. Aber ein Mord in der Großstadt „Frankfurt“ kommt uns eben typischer vor als ein Mord irgendwo in Hessen.

Wenn es ein stimmiges Bild ergibt, überschätzen wir auch die Wahrscheinlichkeit, dass zwei miteinander verknüpfte Ereignisse gleichzeitig eintreten, gegenüber dem Auftreten der einzelnen Wahrscheinlichkeiten. Zum Beispiel erscheint uns in der Vorweihnachtszeit ein Zimmerbrand durch einen brennenden Adventskranz naheliegender als ein Zimmerbrand insgesamt. Dabei ist letzteres bei nüchterner Betrachtung natürlich wahrscheinlicher als ein Brand, der nur durch eine bestimmte Ursache ausgelöst worden ist.

Hinzu kommt, dass wir Wahrscheinlichkeiten keinesfalls „linear“ wahrnehmen. Nach der Prospect Theorie gewichten wir mittlere und hohe Eintrittswahrscheinlichkeiten geringer, als es deren eigentlichem Wert entspricht, während wir niedrige Wahrscheinlichkeiten tendenziell zu stark berücksichtigen.

Besonders deutlich wird das an den Rändern des Spektrums: Sehr kleinen Wahrscheinlichkeiten (wie sie zum Beispiel beim Lottospiel gegeben sind) − also dem Unterschied zwischen „sicher nicht“ und „ganz eventuell doch“ − messen wir deutlich zu viel Gewicht zu („Möglichkeitseffekt“). Gleiches gilt spiegelbildlich für den Unterschied zwischen „ganz sicher“ und „fast sicher“.

Der Möglichkeitseffekt führt also dazu, dass wir gerade sehr unwahrscheinlichen Ereignissen eher eine zu hohe Bedeutung beimessen; umgekehrt führt der Sicherheitseffekt dazu, dass wir auch gegenüber sehr kleinen verbleibenden Unsicherheiten motiviert sind, uns dagegen abzusichern. Beide Effekte liefern also wesentliche Argumente für die Suche nach Versicherungsschutz.

Dass sehr unwahrscheinliche Ereignisse dennoch nicht generell überschätzt werden, liegt daran, dass wir im Sinne vereinfachter Informationsverarbeitung meist nur einen Ausschnitt möglicher Ereignisse in unser „Kalkül“ aufnehmen. Möglicherweise wichtige Aspekte oder Gefahren, die uns im Augenblick einer Entscheidung gerade nicht dargeboten werden und die uns nicht spontan in den Sinn kommen, bleiben vielfach schlichtweg unberücksichtigt. Kahneman benutzt in diesem Zusammenhang das Kürzel WYSIATI − ausgeschrieben „What You See Is All There Is“. Für solche sehr unwahrscheinlichen Risiken lässt sich also ein zweiseitiger Effekt unterstellen: Entweder sie finden zu viel Beachtung oder sie werden schlichtweg ignoriert. Für unsere psychische Gesundheit ist letzteres sicherlich hilfreich, für ein effektives Risikomanagement sollten wir aber auch unwahrscheinliche, jedoch möglicherweise einschneidende Gefahren berücksichtigen.

3.1 Einschätzung von Alltagsrisiken in Deutschland

In der schon zitierten Studie haben wir für die deutsche Bevölkerung erhoben, wie unterschiedliche Risiken aus den Lebensbereichen „Auto und Mobilität“, „Eigentum, Beruf und Familie“ sowie „Gesundheit und Leben“ eingeschätzt werden. Der subjektiven Risikowahrnehmung wurden dann die entsprechenden statistischen Eintrittswahrscheinlichkeiten gegenübergestellt.

Abb. 2.1 vergleicht objektive Eintrittswahrscheinlichkeiten mit der subjektiven Einschätzung durch die Befragten, wie oft ein solches Ereignis bezogen auf die Bevölkerung eintreten könne. Aufgrund der sehr ungleichen Häufigkeiten der Ereignisse sind die Skalen logarithmiert. Die grau gestrichelte Diagonale stellt den Sollwert dar: Risiken, die deutlich darüber liegen, werden also in ihrer Häufigkeit überschätzt, Risiken unterhalb der Diagonalen werden tendenziell unterschätzt. Die rote Kurve stellt eine grafisch vorgenommene Annäherung an den empirisch vorgefundenen Zusammenhang zwischen objektivem Wert und subjektiver Einschätzung dar, ist aber keine Regressionskurve im mathematischen Sinne. Zu beachten ist, dass aufgrund der logarithmischen Darstellung eine Abweichung von einem Skalenstrich („Kästchen“) bereits einer Abweichung um den Faktor 10 entspricht.

Abb. 2.1

Risiken in Deutschland: Objektive Häufigkeiten vs. subjektiver Einschätzung durch die Bevölkerung. (Quelle: Müller-Peters und Gatzert 2020, S. 36)

Die Kurve und die Punktewolke verdeutlichen, dass im Sinne eines Möglichkeitseffekts vor allem die Wahrscheinlichkeiten von faktisch sehr seltenen Ereignissen (die hier ja explizit abgefragt wurden und damit mental präsent waren) in der Tendenz überschätzt werden. Das verstärkt sich – im Sinne der besseren kognitiven Verfügbarkeit – noch für besonders „dramatische“ und „medienwirksame“ Risiken wie tödliche Verkehrsunfälle oder die Gefahr, durch einen Terroranschlag zu sterben.

Häufigere Ereignisse aus der vorgegebenen Liste von Risiken wurden von den Befragten dagegen eher unterschätzt. Neben Eigentumsdelikten gilt dies zum Beispiel für eine Reihe von typischen Sachschäden wie Brand- und Leitungswasserschäden. Besonders hoch ist zudem die Unterschätzung der Häufigkeit von Rechtsfällen. Und auch die „großen“ Krankheitsrisiken wie Herzinfarkt, Schlaganfall und Krebserkrankung werden – analog zum Beispiel aus unserer Vorlesung – in ihrer Häufigkeit unterschätzt.

3.2 Extrembeispiel des Terrorismus

Wie wir schon oben gesehen haben, war Terrorismus zum Zeitpunkt der Befragung die meistüberschätzte Gefahr. Terrorismus ist ein „politisches Instrument“, das sich die beschriebenen Wahrnehmungsverzerrungen besonders perfide zunutze macht, und dadurch mit (relativ zu anderen Todesursachen) geringen Opferzahlen einen maximalen Effekt bei der Bevölkerung erzielt.

In unserer Studie zeigt sich das deutlich an einer Einschätzung zur Gefährlichkeit von Urlaubsländern. Dabei haben wir erfragt, welche Länder die Befragten im Urlaub nicht bereisen würden, „weil es Ihnen dort zu gefährlich wäre“, und die Antworten dann in Relation zu den tatsächlichen „unnatürlichen“ Todesraten durch Verkehr, Kriminalität und Terrorismus gesetzt.

Abb. 2.2 vergleicht die objektive Gefährdung zu den subjektiven Ängsten der Befragten. Dabei zeigen die blauen Rauten die Position der Länder an, wenn lediglich Verkehrstote und Mordfälle berücksichtigt werden. Die gelben Rauten zeigen die Änderung des Gefährdungsindex, wenn für akut terrorismus-betroffene Länder die Zahl der Terroropfer hinzuaddiert wird.

Abb. 2.2

Länderrisiken: Ängste versus Fakten. (Quelle: Müller-Peters und Gatzert 2020, S. 56) (Die Daten zu den einzelnen Ländern beziehen sich auf 2012 (Morde), 2013 (Verkehr) und 2015 (Terror), die Befragung erfolgte 2016, vgl. Müller-Peters, Gatzert 2020.)

Auch wenn Touristen nicht allen Risiken in gleichem Maße ausgesetzt sind wie Einheimische, so nehmen sie doch in der Regel intensiv am Straßenverkehr teil und sind auch regelmäßig Ziel von Gewaltverbrechen. Entsprechend hoch ist der Zusammenhang zwischen dem anhand von Mord- und Verkehrsopfern gebildeten Gefährdungsindex und der subjektiven Einschätzung der Gefährdung in den „normalen“ Ländern − ablesbar an der Punktewolke der blauen Rauten und der daraus abgeleiteten Trendlinie. Sobald jedoch Terrorismus ins Spiel kommt (grün gefärbte Länder, dort gab es im Zeitraum vor der Befragung Anschläge), resultiert eine exponentielle Steigerung der Risikowahrnehmung – ungeachtet der in Relation zu den übrigen Todeszahlen nur jeweils geringen Opferzahlen.

So wurden zum Beispiel Ägypten und noch mehr die Türkei ungleich stärker gemieden als Südafrika, Brasilien oder Thailand mit einem faktisch deutlich höheren Gefahrenpotenzial. Auch die westeuropäischen Länder Frankreich und Belgien hatten 2015 (also im Jahr vor der Befragung) Anschläge erlebt, waren aber objektiv gesehen selbst in diesen Jahren deutlich sicherer als etwa die USA oder Polen. Beide wurden aber relativ zu ihrem Gewaltindex als weitaus unsicherer eingestuft.

Wie gering der Beitrag des Terrorismus zur gesamten „unnatürlichen“ Todesrate ist, zeigt die Position der gelben im Vergleich zu den blauen Länderpunkten in Abb. 2.2. Der Index verschiebt sich durch die Hinzunahme der Terroropfer nur wenig, die relative Position der Länder bleibt so gut wie konstant. Um es auf die Spitze zu treiben: Wenn wir uns vorstellen, dass alle Terroranschläge, die seit der Jahrtausendwende in Westeuropa stattgefunden haben, die verhältnismäßig kleinen Niederlande getroffen hätten, dann würde es uns wohl kaum noch dahinziehen. Faktisch wären die Niederlande dann immer noch eines der sichersten Länder der Welt.

Es lässt sich also festhalten: Terrorismus „wirkt“ in unseren Köpfen − und zwar weit über die tatsächliche gegebene Gefährdungslage hinaus.

Müller-Peters, H. (2023). Risikowahrnehmung und Risikowirklichkeit. In: Arnold, R., Berg, M., Goecke, O., Heep-Altiner, M., Müller-Peters, H. (eds) Risiko im Wandel. Springer Gabler, Wiesbaden.

https://doi.org/10.1007/978-3-658-37071-8_2

http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de

Zur einfacheren Lesbarkeit wurden die Quellen- und Literaturverweise entfernt.


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