02/2024
Der Beitrag bezieht technische Protokolle in den Protokollbegriff ein. Wichtiges Beispiel hierfür sind die Internetprotokolle, die den Nachrichtenverkehr zwischen vernetzten Computern regeln. Die Internetprotokolle sorgen als eine Art »Transportmechanismus« für Aufbau und Aufrechterhaltung der Computerverbindungen im Netz. In Gestalt der Internetprotokolle findet der Protokollbegriff also nicht lediglich eine Fortsetzung. Vielmehr wird der Begriff des Protokolls noch ausgeweitet. Technische Protokolle haben nicht mehr nur die Aufgabe, durch Vorschriften einen möglichst geordneten Austausch zu gewährleisten, wie es bei diplomatischen oder höfischen Protokollen der Fall ist. Ohne technische Protokolle wäre der Zusammenschluss von Rechnern nicht nur in schlechter oder ungeordneter Weise, sondern gar nicht möglich gewesen.
Ausgehend von Alexander Galloways, Vorschlag, »Protocol« als neue Machtform dieser Epoche zu betrachten, geht der Beitrag der Integrations-, Regulations- und Kontrollfunktion von technischen Protokollen in der spätkapitalistischen Gesellschaft nach. Technische Protokolle lenken im Hintergrund der Internetkommunikation den Datenverkehr. Sie bestimmen die nachrichtentechnische Reichweite, aber auch die Grenzen des Netzes. Internetprotokolle lassen damit Merkmale erkennen, die sie mit gesellschaftlicher Gesamtheit oder eben Totalität identifizierbar machen. Galloway hat sie medientheoretisch erschlossen, dabei aber primär ihre dem Netzwerk inhärente, »endogene« Kontrollfunktion untersucht. Nur am Rande erwähnt er, dass die Internetprotokolle letztlich nach Totalität streben, um technisch die Einbindung einer größtmöglichen Anzahl von Kommunikationsteilnehmer:innen (Rechnern) ins Netz zu gewährleisten. Ich schlage vor, Internetprotokolle in mehrfacher Hinsicht, systematisch wie auch konkret gesellschaftlich, als Ausdruck von Totalität zu verstehen. Denkt man technische Protokolle und Totalität zusammen, dann bekommen beide Termini eine neue Bedeutung. Internetprotokolle können so stimmiger auf ihre widersprüchliche gesellschaftliche Funktion hin geprüft werden als bisher. Ihre Funktion besteht eben nicht in der Totalisierung des Internet im Sinne einer sozialen Vereinheitlichung, sondern in der tendenziell totalen, ›offenen Einbindung‹ in weltweite Kommunikation. Bezieht man Totalität auf die Internetkommunikation und ihre technische Bewerkstelligung, dann gewinnt sie eine Dimension hinzu, die im Nachdenken über den Begriff bislang übersehen wurde. Totalität bezeichnet keine uniforme Gesamtheit oder einen Prozess gesellschaftlicher Schließung. Sie macht verstehbar, wie sich ein funktionaler Zusammenhang herstellt. Gleichwohl will ich mit dem Vorschlag, Totalität wesentlich stärker als bisher als einen offenen Prozess zu konzipieren, den Begriff als einen kritischen einsetzen. Der Beitrag will keiner »neoliberalen Wissenschaft der Verbindung« zuarbeiten, wie die Medienphilosophin Wendy Hui Kyong Chun das normative Folgeprojekt gewisser Teile der Netzwerkforschung nennt.
In der Medienarchäologie der technischen Protokolle bezieht sich Galloway mit dem Protokollbegriff noch nicht explizit auf eine Theorie der Gesellschaft, die etwa für Theodor W. Adorno auf eine sehr spezifische Weise Totalität mitbedenken sollte. Wird ein fragmentarischer Begriff der Totalität mit dem Protokollbegriff konfrontiert, verändert er sich seinerseits. Der Begriff der Totalität kennzeichnet dann nicht mehr, wie es lange Zeit üblich war, eine geschlossene Gesellschaft. Er kennzeichnet gerade die flexible Offenheit und Integrationsfähigkeit, die den Spätkapitalismus so anhaltend (›sticky‹), adaptionsfähig und krisengenährt werden lässt. Technische Protokolle, so meine These, verkörpern auf besondere Weise eine Form der offenen Totalität, die für unsere Gesellschaft kennzeichnend ist.
Erstens vollziehe ich die medientheoretische Erschließung des Protokollbegriffs nach und gehe zweitens weiter auf die Genese und Funktion der Internetprotokolle ein. Anschließend greife ich drittens Überlegungen auf, Internetprotokolle und Totalität zusammenzudenken, um sie viertens abschließend mit für die Internetforschung neuen gesellschaftstheoretischen Bezügen zu konfrontieren und als offene Totalität weiterzudenken.
Die medientheoretische Erschließung des Protokollbegriffs
2004 erschien im Verlag des Massachusetts Institute of Technology ein Buch über die Strukturen des Internet mit dem damals überraschenden Titel Protocol. How Control exists after Decentralization . Alexander Galloway legt darin die Idee des Internet als eines unstrukturierten Freiraumes ad acta, die Netzaktivist:innen wie John Perry Barlow seit den 1990ern lautstark geäußert haben. So hat beispielsweise die australische Internetforscherin Elizabeth Reid in ihrer Arbeit über den möglichen Identitätswechsel in der neuen »Electropolis« namens Internet überschwänglich festgestellt: »Internet Relay Chat offers a chance to escape the language of culture and body and return to the idealised ›source code‹ of mind«. Auf Grundlage solcher Positionen resümiert Galloway den Diskurs der beginnenden Internetforschung wie folgt: »The web is described as a free, structureless network«. Insbesondere zwei Eigenschaften des Netzes führten dazu, dass es bis in die 2000er – und zuweilen bis heute – wiederholt als Machtvakuum eingeschätzt wurde: erstens seine Eigenschaft, ein verteiltes Netzwerk darzustellen, in dem es keine übergeordneten Knotenpunkte bzw. hierarchischen Strukturen gibt; zweitens die tendenzielle Gleichberechtigung aller ins Internet eingebundenen Rechner bzw. Kommunikationsteilnehmer:innen, die sie – gleichsam als Realisierung der bei Brecht und Enzensberger geforderten reziproken, progressiven Radio- bzw. Mediennutzung – sowohl zu Empfänger:innen wie zu Sender:innen macht.
Das Internet, so Galloways Kernargument, mag zwar eine verteilte (oder in der technischen Realität wenigstens dezentrale) Struktur ohne steuernde Mitte sein, es ist jedoch keineswegs ordnungslos und ebenso wenig hierarchiefrei. Obliegt die Kontrolle über die weltumspannende Metatechnologie namens Internet auch nicht mehr einzelnen privilegierten Gruppen oder gar einem Souverän, so bedeutet dies nicht, das Internet sei in einem grundsätzlichen Sinne ›free‹ oder gar anarchisch. Kontrolle üben nach Galloway insbesondere die technischen Verkehrsregeln – und das heißt die Protokolle – aus, denn sie sind es, die alle Transaktionen ordnend verbinden. Protokolle, so definiert Galloway, seien insgesamt als eine Technik (technique) zu betrachten, mit der Selbstregulation in einer zufälligen, offenen Umgebung erreicht wird. Protocol stellt einen Wendepunkt in der Beschreibung des Internet dar, der mit dem Anbruch der Plattformära zusammenfällt. Zeitgleich zur Publikation des Buches geht Facebook online, und Schlag auf Schlag folgen die Gründungen der Plattformen Youtube 2005 und schließlich Twitter 2006. Protocol steht nicht nur, aber auch deshalb am Beginn eines ›Dunkelwerden‹ des Netzes. Keller Easterling bemerkt einige Jahre später hierzu aus Perspektive der Infrastrukturforschung, als sich die zentrierenden Dynamiken um Social Media, Google, Amazon und die Informationsversorgung als solche deutlich abzeichnen: »Das Internet, das oft als ein offenes Geflecht gedacht wird, bei dem jeder Punkt des Netzwerks jeden anderen Punkt erreichen kann, ähnelt in Wirklichkeit wohl eher einer multizentrischen Organisation«. Dennoch, so bleibt mit Galloway zu bedenken, wäre selbst ein real verteiltes technisches Kommunikationsnetz nicht struktur- und ordnungslos. Gab es aus den Reihen post-marxistischer Beobachter:innen zuvor auch bereits Kritiken an der freien, das heißt unbezahlten Arbeit, die am und im Netz verrichtet werden musste, so hat doch erst die Exposition der macht- und medientheoretischen Bedeutung seiner protokollarischen Grundform der politischen Fehleinschätzung des Internet als progressivem Utopia vorläufig ein Ende bereitet.
Protokolle haben in der digitalen Kultur ihre Form verändert und dabei nochmals an Bedeutung gewonnen. Inzwischen muss der Begriff des Protokolls mindestens so sehr auf die technische Regelung der Kommunikation zwischen Computern bezogen werden wie auf die schriftlichen Formen des Protokollierens und die Verhaltensvorschriften in diplomatischen Kontexten: »Now protocols refer specifically to standards governing the implementation of specific technologies«. Technik kommt ohne Einheitlichkeit und Standards nicht aus, die im Falle des Internet in Form der Internetprotokolle eine entscheidende Rolle spielen. Ein ›Protokoll‹ soll nach Galloway allgemein ein Führungsstil sein oder, neokybernetisch formuliert, eine Steuerungstechnik. Konkret bezieht sich dieses Protokoll im Singular bei Galloway insbesondere auf die technisch realisierten verschiedenen Internetprotokolle wie insbesondere das Paar TCP/IP Transmission Control Protocol und Internet Protocol sowie die Ebenen (Internetlayer), die den analytischen Ansatzpunkt des beschriebenen Führungsstils darstellen.
Was aber sind Internetprotokolle und warum stellen sie einen der wichtigsten technischen Aspekte dar, an dem sich die Vergesellschaftung im Netz, die Formierung als digitale Gesellschaft respektive Internetgesellschaft im Spätkapitalismus festmachen lässt? Technische Protokolle regeln den Nachrichtenverkehr zwischen vernetzten Computern auf grundlegende Weise: »At the core of networked computing is the concept of protocol. A computer protocol is a set of recommendations and rules that outline specific technical standards«. Ohne Protokolle, so ließe sich im Duktus der natürlichen Sprachen sagen, »verstehen« sich Computer nicht. Sie können ohne per Protokoll vereinbarte Standards keine Daten austauschen, geschweige denn, sich zu einem größeren Verbund zusammenschließen. Auf die Sprachmetapher – das Verstehen – komme ich im Abschnitt über Internetprotokolle und Totalität zurück. Technische Protokolle organisieren den Datenverkehr, um mit dem Verkehr ein weiteres Sprachregister zu erwähnen, das Galloway noch vor Easterling mehrmals zieht.
Gleichwohl sind Protokolle mehr als Regeln im Sinne moralischer Normen und Kategorien, da sie wie Gussformen möglicher Verfahrens- und Verhaltensweisen funktionieren. Die Internetprotokolle stehen deshalb aus gutem Grund im Mittelpunkt von Galloways machtanalytischer Betrachtung des Netzes, mit der er Michael Hardts und Antonio Negris post-marxistischer Theorie des Empire eine Techniktheorie zur Seite stellen will. Im Computer- bzw. Netzwerkprotokoll identifiziert Galloway den Weg, auf dem die Gesellschaft ihre Veränderung in Richtung einer Kontrollgesellschaft technisch bewerkstelligt. Es sei dahingestellt, ob und inwieweit man den von Félix Guattari und Gilles Deleuze geprägten, weithin diskutierten Begriff der Kontrollgesellschaft als passende politische Form der Gegenwart wieder aufgreifen will. Wichtig bleibt an dieser Stelle, dass damit in der Medientheorie ein entscheidender Übergang analysiert werden soll: »The computer protocol is thus in lockstep with Hardt and Negri’s analysis of Empire’s logics, particularly the third mode of imperial command, the managerial economy of command«.
Den Führungsstil des Internet, so das Argument, bildet eben seine protokollarische Organisationsform, die nichts mit autoritären Vorgaben zu tun hat. Das Protokoll ergibt für Galloway gemeinsam mit der Struktur des Netzes bzw. seiner generellen Grundanlage – dem Diagramm – und der basalen Technik – digitalen Rechnern – die drei Elemente eines »neuen Kontrollapparats« unserer gegenwärtigen Gesellschaft:
The diagram is the distributed network, a structural form without center that resembles a web or meshwork. The technology is the digital computer, an abstract machine able to perform the work of any other machine (provided it can be described logically). The management style is protocol, the principle of organization native to computers in distributed networks. All three come together to define a new apparatus of control that has achieved importance at the start of the new millennium.
Mit dem Informatiker Paul Baran, der die Idee der Netzwerkarchitektur des Internet entwickelt hat, stellt Galloway die Verteilung der Kommunikation vor sowie die Versandart – die Adressierung und Aufteilung der Datenpakete im Packet Switching. Um die Entwicklung der einzelnen Internetschichten und differenten Protokolle zu rekonstruieren, liest er die so genannten Requests for Comments medientheoretisch neu, in denen die technischen Spezifikationen kollektiv niedergelegt und diskutiert werden.
Die Internetprotokolle sind aus medientheoretischer Sicht nicht frei von Widersprüchen oder, besser gesagt, nicht ohne Gegensätze. Diese Gegensätzlichkeit, wie Galloway es nennt, befördere die Fehlwahrnehmung des Internet als chaotisch anstelle von hochorganisiert. Tragen einige der Protokolle wie TCP/IP gerade die horizontale – und verteilte – Struktur des Internet, indem sie Kontrolle an autonome Einzelagent:innen abgeben – so verbergen sich in der Protokollstruktur wie etwa in der Baumstruktur des Domain Name Systems doch auch vertikale Strukturen. Tim Berners-Lee nannte das Domain Name System deshalb auch die »Achillesferse« des World Wide Web, über die die gesamte verteilte Struktur wieder dem kontrollierenden Zugriff ausgesetzt sei.
Kontrolle im sozialen und gesellschaftlichen Sinne bleibt bei Galloway zunächst an den Geltungsbereich der Internetprotokolle im technischen Sinne gebunden. Eine Ergänzung durch den Begriff der Totalität nimmt hierbei den zentralen Vorgang der Einbindung in das Internet wesentlich stärker in den Blick, gerade in seiner offensichtlichen Zwiespältigkeit, die zum Ruf nach Entnetzung geführt hat. Die Frage von protokollarischer Inklusion und Exklusion aus dem Netz ist ein wesentlicher Punkt der Ausdifferenzierung der Kontrollfunktion der Internetprotokolle. Am Beispiel verschiedener Staaten wie vor allem China und Russland zeigt sich in den letzten Jahren deutlich, dass mit staatlichen Interventionen diverser Art wie durch Blocken und gezielte Entnetzung das Internet sehr wohl kontrolliert werden kann. Galloway demonstriert, wie über die Protokolle im Internet direkte politische Kontrolle ausgeübt werden kann und nimmt hier den – später in Teilen von verschiedenen staatlichen Akteuren immer wieder selbst vorgenommenen – Bann durch Modifikation des Domain Name Systems vorweg:
If hypothetically some controlling authority wished to ban China from the Internet (e.g., during an outbreak of hostilities), they could do so very easily through a simple modification of the information contained in the root servers at the top of the inverted tree. Within twenty-four hours, China would vanish from the Internet.
Mit zwanzig Jahren Abstand betrifft Galloways Machtanalyse sogar noch stärker als zuvor die Diskurse über das Internet. Zwei Entwicklungen haben dazu geführt, dass von politisch ›linker‹ Seite inzwischen die staatliche Regulation sogar gefordert bzw. wenigstens die Moderation der Plattformen dezidiert goutiert wird: nämlich die ›rechte‹ Nutzung des Internet mit der weiten Verbreitung von Hetze und Falschmeldungen sowie die allgemeine Entwicklung von Social Media-Kanälen.
Genese und Funktion der Internetprotokolle
Gegenstand der folgenden Betrachtungen ist das Internet in der Zeit von ca. 1970 bis ca. 2004, das heißt das Internet vor der Plattformära. Die Internetprotokolle, die in dieser Zeit entwickelt und eingeführt wurden, regeln jedoch nach wie vor auch in den Hochzeiten von Social Media allen Nachrichtenverkehr im Netz. Es ist allerdings wichtig, sich den Status der Ausdrücke Kommunikation, Nachricht, Einbindung, Kommunikationsteilnehmer:in, Sender:in und Empfänger:in in den untersuchten Quellen zu vergegenwärtigen, da sie sich nicht mit den Social Media-User:innen und mitunter überhaupt nicht mit menschlichen Kommunikationsteilnehmer:innen decken, sondern zunächst auf Maschinen bezogen sind. Warum die technischen Beschreibungen dennoch medientheoretisch zu lesen sind, entwickeln die zitierten Autor:innen.
Das Netzwerkprotokoll stellt in gewisser Weise das Rückgrat des Internet dar, weil es den gesamten Nachrichtenaustausch trägt und die Kommunikation der Maschinen untereinander garantiert: »Protocol is the reason that the Internet works and performs work«. Beim Netzwerkprotokoll handelt es sich nur vermeintlich um einen Singular, da unter diesem Terminus eine so genannte Protokollfamilie zusammengefasst wird, aus der das Transmission Control Protocol (TCP) und das Internet Protocol (IP) als das vielleicht wichtigste Paar herausstechen. Der Medienethnologe Sebastian Gießmann hat in seiner Analyse der Strukturen und Funktionen von Netzwerken hierbei von »interagierenden Protokollen« gesprochen, die die Protokolle der Schriftkultur zugleich fortsetzen und verändern: »Netzwerke können auf mehreren interagierenden Protokollen beruhen. Im Falle des Internet ist dies technische Bedingung der Möglichkeit von Übertragung: das p in http steht für protocol«.
Etymologisch verweist das protocol zunächst auf die Schriftkultur und konkret nach Byzanz zurück, wo es bekanntermaßen ein »den amtlichen Papyrusrollen und Schriftrollen vorgeleimtes Blatt mit chronologischen Angaben über die Entstehung und den Verfasser des Schriftstücks« bezeichnete. Der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger verbindet das Protokollieren im wissenschaftlichen Experiment noch eng mit der Kulturtechnik des Schreibens. Als Protokolle betrachtet er eine spezielle »experimentiernahe Form der Verschriftung« oder auch »Primärverschriftung«. Wissenschaftliche Protokolle, die »Skizzen, Exzerpte, Gedankenfetzen, Datenstreifen, Kalibrierungsergebnisse« und anderes sein können, hatten lange Zeit eine undefinierte und übersehene Funktion. Sie dienten nicht so sehr als geordnete Dauerablage, sondern dazu, um »schlichtes Zwischenspeichern« der Forschungsergebnisse zu erreichen. Betreffen die schriftlichen Formen des Protokollierens von beobachteten, gesprochenen und mündlich vereinbarten Dingen auf den ersten Blick eher das geregelte mehr oder weniger dauerhafte Speichern von Information, so beziehen sich die technischen Protokolle der Internetära primär auf die Sicherstellung und Organisation der Nachrichtenübertragung. Beim Konzept der Internetprotokolle handelt es sich um einen historisch immer noch neuen »transportation mechanism«, wie die Informatiker Vinton Cerf und Robert Kahn es ausdrücken.
Am Fall der Internetprotokolle lässt sich gut erkennen, dass in der Geschichte des Internet gezielte Planung, staatlich-wirtschaftliche Interessen und spontane Weiterentwicklungen Hand in Hand gingen. Wichtige Innovationen, die zur Entwicklung des Transmission-Control-Protocols durch Kahn und Cerf führten, stammten nicht aus dem federführenden US-amerikanischen Kontext, sondern aus Frankreich. Am Beispiel der Protokolle wird einmal mehr deutlich, dass die Geschichte des Internet sich nicht unumwunden als US-amerikanische Geschichte schreiben lässt. Für die Entwicklung des Protokollpaares TCP/IP war nämlich das französische Projekt CYCLADES von grundlegender Bedeutung. Dem System lag ein Datagramm-Netzwerk zugrunde, das passend CIGALE hieß. Wie die CIGALES – Grillen oder Grashüpfer – sprangen die Datenpakete in frühen Formen des so genannten Packet Switching durch das Nachrichtennetz CYCLADES. Diese Prinzipien hat Cerf von den französischen Informatikern Louis Pouzin und Hubert Zimmerman übernommen und in sein und Kahns Transmission-Control-Modell überführt. Das Transmission Control Program oder Protocol war außerdem nicht für die langfristige Nutzung im ARPANET gedacht, setzte sich dann aber als Erfolgsmodell durch und wurde als Standard im entstandenen Gesamtnetz implementiert.
Der Transportmechanismus namens Transmission-Control-Protocol hatte zu Beginn vor allem die Aufgabe, verschiedene Subnetze mit dem frühen Internet, dem wissenschaftlich-militärischen ARPANET zu verbinden. Die ersten Internetprotokolle sammeln sozusagen Einzelnetze wie das ALOHAnet ein, um das ARPANET zu vergrößern. Der Transport, den die Internetprotokolle leisten sollten, betraf zunächst also vor allem die Übertragung der Netze selbst oder genauer gesagt ihre Überführung in die Vorform des heutigen Internets, das ARPANET, um sie an den weltweiten Rechenkapazitäten zu beteiligen. Ohne die technischen Protokolle wäre es unmöglich gewesen, die in den 1960ern und 1970ern bereits existierenden, aber nicht miteinander kompatiblen Kommunikations- und Computernetzwerke zum heutigen Internet zu verbinden. Vinton Cerf und Robert Kahn hatten explizit die Aufgabe, durch die Entwicklung spezifischer technischer Protokolle dieses »interconnecting« voranzubringen:
The Internet evolved from the ARPANET during the late 1970s and early 1980s. It was conceived not as a single network but rather a collection of different networks, hence the name. During the early 1970s ARPA-funded researchers also investigated new protocols capable of interconnecting networks based on communication media with very different characteristics such as radio links, fast local networks, and long-distance data lines.
Es ist wichtig, bei der Genese der Internetprotokolle ihre Bedeutung erstens für einen historischen Schritt in der Emanzipation des Internet vom ARPANET und zweitens für die Vereinbarkeit verschiedener Netzwerke zu berücksichtigen. Für diese Phase schlagen Thomas Haigh und Paul E. Cerruzi in ihrer neuen Geschichte des Modern Computing den Namen »Internetworking« vor, womit sie gleichzeitig das Inter- in Internet wieder historisch und systematisch ausdifferenzieren wollen. Das Internet trage den Prozess der Verknüpfung vieler Netzwerke im Namen, dessen Versammlung es eigentlich sei. Protokolle stellen ein wichtiges Vehikel für das »Internetworking« dar, das in der Rückblende stark zum Eindruck beitrug, das Internet sei ›chaotisch‹, ›von unten‹ durch das Verschmelzen verteilter Netze gewachsen. Wie bedeutsam diese fast vergessene Phase der Vergrößerung und damit auch Internationalisierung des ARPANET war, belegt ein Oral History Interview, das die damalige Ko-Direktorin des Charles Babbage Institute (CBI) 1990 mit Robert Kahn geführt hat. Kahn nutzt für die Beschreibung der Tätigkeiten und Programme in der Zeit von 1970er bis zur weiteren Öffnung des Internet in den 1980er Jahren einen weiteren Begriff, ohne ihn auszuführen. Mehrmals spricht Kahn hier in einer eigentümlichen Formulierung von »Internetting«. Während einer Diskussion mit der Interviewerin über den zeitlichen Ursprung des Begriffs »Packet Switching«, erinnert Kahn sich an Internetting, das für ihn lange vor dem Terminus Internet wichtig war:
So some time in that time frame packet switching terminology just sort of slipped in as did the term ARPANET. It became part of the culture. It’s like internetting. When Vint and I wrote the original paper on internetting, I don’t think, we actually used the term internet, which became as much part of the jargon as ARPANET did. We wrote about internetting, we talked about internetting. I mean the sequence of letters showed up, but not explicitly as »Internet«.
Tatsächlich ist in Kahns und Cerfs berühmtem Paper, in dem sie das Transmission Control Protocol offiziell vorstellen, nirgendwo von »internet«, allerdings auch nicht von »internetting«, dafür aber vielfach von »internetwork« die Rede. Schließlich hatten die beiden doch den expliziten Auftrag, die Netze zusammenzuführen. Die DARPA, wie die leitende Behörde des ARPANET inzwischen hieß, gab Cerf anschließend noch einen Vertrag in Stanford, um das TCP/IP-Konzept im ARPANET zu implementieren. Daneben gab es kleinere Aufträge bei Bolt Beranek und Newman (BBN) und am University College in London. Man geht fehl in der Annahme, die Betrachtung des Protokollpaares TCP/IP sei lediglich von computer- und internethistorischem Interesse. Bis zum heutigen Tag wird hauptsächlich die Version 4 der Protokollsuite genutzt, um den Großteil des Datenverkehrs im Internet zu übertragen, und das obwohl die Version 6 seit Langem verfügbar ist. Genese und Funktion der Internetprotokolle zeigen, dass sie historisch wie technisch über das Wachstum des Internet walten und damit über das Internet als Ganzes.
Internetprotokolle und Totalität
Internetprotokolle streben schlussendlich nach nichts weniger als Totalität, schließt Alexander Galloway, um ihre basalen Eigenschaften zu unterstreichen: »The ultimate goal of the Internet protocols is totality«. Mit ihren Eigenschaften Robustheit, Zufälligkeit, Interoperabilität, Flexibilität und »pantheism« erstreben sie größtmögliche Reichweite und eben Totalität. Diese Totalität, so schlage ich vor, muss in erster Linie als eine offene Totalität verstanden werden, und zwar in einem technischen, in einem systematischen, aber auch in einem medienarchäologischen und schließlich gesellschaftstheoretischen Sinne. Konkret technisch zielen die Protokolle auf Totalität, und das heißt: auf eine möglichst gesamthafte Einbindung der verschiedensten Rechner ins Netz. Dies wurde bereits beim Nachvollzug der Protokollgenese und ihrer Bedeutung für den gelingenden Zusammenschluss der Einzelnetze deutlich. Den absoluten ›Tech-Liberalismus‹ der Rechner bzw. Hosts, der sich mit politischen Programmen der frühen Netzgemeinschaft zu decken scheint, drückt Galloway als Motto der Internethosts wie folgt aus: »Accept everything, no matter what source, sender, or destination«.
Systematisch betrachtet, ergänzen sich der Protokollbegriff und die Totalität sehr gut. Totalitäten stellen nicht nur beliebige Sammlungen und Mengen dar, sondern es handelt sich um definierte, das heißt z. B. durch Protokolle geregelte Bezüge, die eine spezifische Einheit oder eben Gesamtheit bilden. Folgt man der von Galloway vorgeschlagenen Verbindung von Computergeschichte mit Medienarchäologie und Gesellschaftsanalyse, dann ist diese technische Form der Gastfreundschaft mit der ausgreifenden Inklusion aller Kommunikationsteilnehmer:innen in all ihren Effekten auszuwerten: »Yet computer protocols are not just a set of technical specifications, … They are an entire formal apparatus. By formal apparatus I mean the totality of techniques and conventions that affect protocol at a social level, not simply a technical one«.
Wenn nun aber, wie Galloway hier exponiert, Protokolle erstens eine Gesamtheit bilden, die zweitens – so sieht es auch Gießmann – gerade nicht auf ein rein instrumentelles Verständnis von Technik reduziert werden kann, dann liegt es nahe, diese protokollarische Gesamtheit mit dem Begriff der Totalität weiter zu spezifizieren. Dabei ist festzuhalten, dass Internetprotokolle sich gerade nicht auf Totalität zu bewegen, um technisch eine gesamtgesellschaftliche Einschließung herbeizuführen. Genauso wenig bedeuten sie, dass die kommunizierenden Hosts vereinheitlicht werden müssen. Im Gegenteil ermöglichen es die Internetprotokolle gerade durch ihre weitestgehende Toleranz, dass der Datenverkehr funktioniert: »A basic objective of the Internet design is to tolerate a wide range of network characteristics – e.g., bandwith, delay, packet loss, packet reordering, and maximum packet size«. Weiterhin sind als Grund für das Streben nach Totalität die bereits benannte Robustheit gegen den Ausfall von Einzelnetzwerken und vor allen Dingen »open system interconnection« zu nennen.
Was nun ist damit gemeint? Konkret meint dies zuerst einmal die netzwerkbedingten Voraussetzungen für eine gelingende Netzwerkarchitektur: Ein Netz ist nur ein Netz, wenn die technische Verbindung zwischen verschiedenen Maschinen steht, die unter zum Teil sehr unterschiedliche Bedingungen operieren (wie etwa abweichenden Schnelligkeiten des Netzzugangs). Bei der Einbindung der »Hosts« und das heißt der einzelnen Computer bzw. Maschinen in das Netzwerk geht es nicht um einen möglichst hohen Qualitätsstandard, sondern um das verlässliche Zusammenspiel von immer vorhandenen Unterschieden: »As long as the hosts on the network conform to the general suite of Internet protocols – like a lingua franca for computers – then the transport and Internet layers, working in concert, will take care of everything«.
Hier möchte ich den Vergleich mit einer lingua franca, einer Verkehrssprache hervorheben, auf den Galloway leider nicht weiter eingeht. Verkehrssprachen sind schon dem Namen nach auf den Austausch bezogen und wirkten meist als mehr oder weniger gewünschte Verbindung vormals differenter Sprachräume (Stichwort Anglizismen). Auch der Sprachvergleich betont, dass die Gesamtheit, auf die Internetprotokolle hinauslaufen, zurecht nicht mit Homogenität oder eben Schließung gleichzusetzen ist. Weiterhin stützt der lingua franca-Vergleich die These, dass Protokolle noch wesentlich stärker in Richtung Totalität zu lesen sind, als es in Protocol angedeutet wird. Denn auch natürliche Sprachen sind aufgrund ihrer komplexen inneren Bezüge als Totalitäten zu bezeichnen, die ihre Einzelteile erst zu dem machen, was sie sind. Kahn und Cerf nutzen bei der Vorstellung des Transmission Control Protocols ebenfalls den Sprach- oder hier Semantikvergleich für ihre Protokolldefinition: »To make the data meaningful, the computers share a common protocol (i. e. a set of agreed upon conventions)«. Die Bedeutung, um die es Cerf und Kahn an dieser Stelle geht, liegt außerhalb der sprachlichen Kommunikation der Entwickler:innen und Nutzer:innen des Netzes. Dennoch trägt die Metaphorisierung der technischen Vorgänge durch die Informatiker (Cerf und Kahn) an dieser Stelle zum weiteren Verständnis der gesellschaftlichen Streukraft der Protokolle bei.
Galloway würdigt Bertolt Brechts und Hans Magnus Enzensbergers Radio- bzw. Medientheorien als erste materialistische Kommunikationstheorien, da sie bereits, wie er es mit dem Netz tun will, die technische Verfassung des Radios bzw. der Massenmedien in ihrer machtkritischen Medienanalyse fokussierten. Genauso, ist mit Galloway weiter zu schließen, können die technischen Gegebenheiten von technischen Protollen in ihrer Gesamtheit – in ihrer Totalität – nicht einfach als technische Systeme angesehen werden, die eben eine bestimmte Kultur hervorgebracht haben und einen spezifischen Gebrauch vorsehen.
Die in den Request für Comments dokumentierten technischen Spezifikationen der Internetprotokolle zeugen davon, dass sie Gegensätze zusammenbringen. Internetprotokolle schaffen einerseits verbindliche Standards, andererseits wollen sie möglichst inklusiv sein, um robuste Netzwerkverbindungen aufbauen zu können: »TCP implementation will follow a general principle of robustness: be conservative in what you do, be liberal in what you accept from others«, schreibt Jonathan Postel, einer der wichtigsten Editoren der Request for Comments, im September 1981 in der zentralen Regelung der Internetprotokolle RFC 793 über die »Transmission Control Protocol Philosophy«. Dieses zunächst auf die technischen Belange und Logiken der Netzwerkbildung angewandte Fazit soll hier erstens auf Gesellschaft an sich bezogen werden und zweitens als eine Bewegung des fortlaufenden Einbezugs einem Credo der Openness (Open Source, Open Science, Open Access) entgegengehalten werden.
Offene Totalität
Totalität wird in der Regel mit Einheit und Geschlossenheit gleichgesetzt. Als Merkmal der gegenwärtigen Gesellschaft bezeichnet Totalität deren vereinheitlichendes Wesen, wie es in der politischen Philosophie bei Hannah Arendt und Theodor W. Adorno der Fall ist. Begriffsgeschichtlich ist die Totalität jedoch wesentlich älter als die Gesellschafts- und Techniktheorie des 20. Jahrhunderts. Der Ausdruck ›Totalität‹ entstammt ursprünglich den spätmittelalterlichen Lehren; das Deutsche Wörterbuch nennt hier Thomas von Aquin und Nicolaus von Cues als Quellen. Übersetzungen des Begriffs aus dem mittel- und neulateinischen totalitas lauten nach Jacob und Wilhelm Grimm »Allheit, Ganzheit, Vollständigkeit, Einheit«. Der Philosophiehistoriker Michael Inwood führt den Begriff der Totalität, wie er Hegel geläufig war, auf den Wortgebrauch des scholastischen Lateins zurück. Im sechzehnten Jahrhundert wurde hiernach aus dem Lateinischen totus – ganz – zusätzlich totalis (total) und schließlich totalitas (Totalität). Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff der Totalität prominent dazu benutzt, um bestimmte Eigenschaften der modernen Gesellschaft (Adorno) oder Formen ihres Missbrauchs (Arendt) zu definieren.
Man könnte leicht einwenden, dass Totalität der ganz und gar falsche Begriff ist, um die Technik – und damit die Internetprotokolle – in der spätkapitalistischen Gesellschaft angemessen zu beschreiben. Digitale Medien in ihrer Vernetzung zum Internet verfügen ja gerade über keine einheitliche Machart oder Gesamtorganisation mehr. Sie sind mitnichten »ganz« im Sinne von vollständig oder gar abgeschlossen. Weder ihre Funktionsweisen noch ihre Entwicklung oder gar ihre Ästhetik lassen sich den Merkmalen zuordnen, die seit der Scholastik die Totalität ausmachen. Denn ist nicht trotz aller Planung immer eine gewisse Unordnung in den Entwicklungsschüben der Technik unserer Tage zu beobachten? Hat diese Unordnung oder wenigstens Unübersichtlichkeit nicht dazu geführt, dass man digitalen Medien und insbesondere dem Internet vor seiner verstärkten kapitalistischen Verdichtung durch die Plattformen einen geradezu anarchischen Charakter zuschreibt oder wenigstens lange Zeit zugeschrieben hat? Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hatten dann auch Begriffe Konjunktur, die wie das klassische Rhizom bei Gilles Deleuze und Félix Guattari nicht die zeitliche oder räumliche Vollständigkeit technischer Errungenschaften, sondern die netzartige Ausbreitung technologischer Infrastrukturen zu spiegeln oder sogar zu verhandeln schienen. Weit über die Geisteswissenschaften hinaus hat die netzartige Struktur des Internet bis Anfang der 2000er zu einer weitgehenden Überschätzung seines politischen, theoretischen und alternativen wirtschaftlichen Potenzials geführt. Übersehen wurde hierbei jedoch etwas ganz Entscheidendes, nämlich das gemeinsame Element der technischen Kommunikation, mit dem erst die wurzelartige Verbindung der vielen Digitalrechner auf dieser Welt zustande kam: die im Netzwerk eingebetteten Internetprotokolle, die für eine Gesamtheit von technischen Regelungen und Abläufen stehen. Auch wenn das Internet in seinem Aufbau einem Wurzelstock oder Rhizom tatsächlich ähnelt, so ist es aus technischer Sicht dennoch nicht wildwachsend:
The story goes that the Internet is rhizomatic. On the one hand, the Web is structured around rigid protocols that govern the transfer and representation of texts and images – so the Web isn’t an ›acentered, nonhierarchical, nonsignifying system‹ as is Deleuze and Guattari’s rhizome. But on the other hand, the Web seems to mirror several of the key characteristics of the rhizome: the ability of any node to be connected to any other node, the rule of multiplicity, the ability to splinter off or graft on at any point, the rejection of a ›deep structure,‹ and so forth.
Dass Galloway die Internetprotokolle als »rigid«, also als streng und in gewissem Sinne »starr« bezeichnet, ist ein Kontrast zur Vorstellung von der absoluten Unabhängigkeit des Netzes, die Barlow proklamieren wollte: »Ours is a world that is both everywhere and nowhere, but it is not where bodies live«.
Protokolle hingegen organisieren die physikalischen Netzwerke. Sie sind in jedem Falle verpflichtend, da ihr Einsatz für den gelingenden Informationsaustausch im Internet alternativlos ist. Gleichzeitig öffnen sie das Netzwerk namens Internet erst für sehr verschiedene Kommunikationsteilnehmer:innen und laufen auf alles andere als Exklusion hinaus. Totalität bedeutet internethistorisch, und – so meine These – prinzipiell keineswegs, soziale, politische und kulturelle Uniformität herzustellen. Sie stimmt nicht mit dem Begriff der Totalität im 20. Jahrhundert überein und sollte den Vorgang der Öffnung für differente Einzelne mitbedenken.
Totalität wird nach Hannah Arendt in den Diskursen der Kritischen Theorie zu etwas Neuem, Negativem. Im großen Unterschied zu Georg Lukács, der Totalität letztlich vom antiken Epos her denkt, will auch Adorno sie als eine rein kritische Kategorie verstanden wissen: »Totalität ist keine affirmative, vielmehr eine kritische Kategorie«. Gleichwohl verwendet Adorno selbst den Begriff der Totalität nicht immer einheitlich in bereits entwickelter Form, zum Beispiel wenn er ihn in jenem konzentrierten Text zum Begriff der Gesellschaft, der 1966 den Beginn seiner späten Beschäftigung mit der Totalität markiert, zu Abgrenzungszwecken vorläufig der Menge aller Menschen gleichstellt, die zu einem bestimmten Zeitpunkt am Leben sind. Bei der Bestimmung des Begriffs ›Gesellschaft‹ gewinnt für Adorno hierbei sogar die Vorstellung von dem, was diese sein soll, zunächst deutlich die Oberhand gegenüber dem, was im Unterschied dazu die Totalität auf einer ersten Stufe der Begriffsbildung ausmacht. Was im Wort Gesellschaft mitgedacht sei, das würde verfehlt, setzte man sie mit »der Menschheit samt all den Gruppen« gleich, »in welche sie zerfällt und aus welchen sie sich bildet, oder, simpler« wäre es noch, sie aufzufassen »als die Totalität der in einem Zeitabschnitt lebenden Menschen«. In der schematischen Gegenüberstellung wird zwischen einer eindeutig benenn- und erfassbaren Menge an menschlichen Individuen, die unter dem Gesellschaftsbegriff versammelt würden – der dann hierbei einer Invariante bzw. unveränderliche Größe oder auch Konstante entspräche – und der Gesellschaft als in Bewegung Befindliches unterschieden. Die rein quantitative Erfassung bzw. die Bestimmung der Gesellschaft als Gesamtheit aller lebenden Menschen ist für Adorno zu statisch, um daraus einen passenden Begriff der heutigen Gesellschaft zu gewinnen. Keine »herauspräparierte[n] Invarianten« seien nämlich in der Lage, den Begriff der Gesellschaft auszumachen, da sie »wesentlich Prozeß« und darum vor allem über ihre »Bewegungsgesetze« zugänglich werde. Hauptabsicht Adornos ist es, eine funktionale Definition der Gesellschaft vorzubereiten.
Vor allem aber kann Gesellschaft deshalb nicht mit der Menschheit deckungsgleich sein, weil sie sich verkehrt und gegen diese gewandt hat. Der gewichtigste Einwand der Kritischen Theorie gegen eine formale Definition der Gesellschaft als der Menge aller lebenden Individuen, ihrer individuellen Verfasstheit und Meinungen, richtet sich gegen die trügerische Vorstellung, dass diese Gesellschaftlichkeit insofern »menschlich« sei, als sie für »deckungsgleich mit ihren Individuen« gehalten werden könnte. Damit aber würde genau verfehlt, wozu Gesellschaft geworden ist, nämlich das spezifische »Übergewicht von Verhältnissen über die Menschen«. Hier zeichnet sich ab, dass auch in einer zu entwickelnden späten Theorie der technischen Gesellschaft bei Adorno der Zugang methodisch an die Kritische Theorie der Dialektik der Aufklärung angeschlossen hätte, über die der Medien- und Kulturtheoretiker John Durham Peters urteilt: »The wedding of micro-feeling and macro-structure is a hallmark for critical theory«.
Totalität wird bei Adorno schließlich zu einem Hauptmerkmal kapitalistischer Gesellschaft und fast durchgängig als gesellschaftliche Schließung gedacht. Gesellschaft in ihrer Eigenschaft, Totalität zu sein, gleicht einem Prozess des Einbegreifens und darum für Adorno immer wieder auch einer Vereinheitlichung. »Totale Vergesellschaftung« und ihre Folgen, wie sie die Weiterentwicklung der kapitalistischen Gesellschaft im 20. Jahrhundert hin zum Spätkapitalismus mit sich bringe, so Adorno, ist jedoch nicht der Technik als solcher anzulasten.
All das ist nicht Technik als solcher aufzubürden. Sie ist nur eine Gestalt menschlicher Produktivkraft, verlängerter Arm noch in den kybernetischen Maschinen, und darum selber einzig ein Moment in der Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, kein Drittes und dämonisch Selbständiges.
Adorno ordnet Technik an dieser Stelle einmal mehr auf traditionell marxistische Weise den Produktivkräften zu. Kritik habe sich immer wieder fälschlicherweise dazu verleiten lassen, die Technik zur Zielscheibe zu nehmen. Es ist jedoch zu unterlassen, so Adorno, dass man »der Technik, also den Produktivkräften, die Schuld aufbürdet und eine Art Maschinenstürmerei auf erweiterter Stufenleiter betreibt«. An dieser Stelle wäre noch auf das strategische Moment einzugehen, warum Adorno hier die Technik positiv besetzt (um nämlich den Begriff des Spätkapitalismus von der These der Industriegesellschaft abzugrenzen, die von ihren Vertreter:innen mit tendenziell verselbständigter Technik identifiziert wird). Wichtiger ist hier jedoch, dass diese Einschätzung so nicht mehr zu halten ist. Technik lässt sich aus vielen Gründen, zu denen der Plattformkapitalismus mit seinem neuen Rohstoff Daten, aber auch die algorithmischen Verzerrungen und eben neue technische Kontrollformen zählen, nicht mehr aus der Gesellschaftsanalyse ausklammern. Deshalb schlage ich vor, die wichtigen technischen Momente, zu denen gerade auch die Internetprotokolle zählen, für die Analyse des offenen Gesamtzusammenhangs heranzuziehen, der unsere Gesellschaft ausmacht und ihre Totalität ergibt.
Adorno bezeichnet als Totalität, totalisierend und total diejenigen Tendenzen des gesellschaftlichen Lebens, die den schließenden Charakter der bestehenden Gesellschaftsform ausdrücken.
Direkte Belege für diese Einschätzung sind in seinem von Marc Sommer erstmals in einer Monographie untersuchten Hauptwerk der Negativen Dialektik zu finden. Über die »Konstruktion des Weltgeistes« im deutschen Idealismus Hegel’scher Prägung schreibt Adorno in der Negativen Dialektik, dass sie, einerseits, Rechnung ablege von der »Emanzipation des Subjekts«. Dem steht die gesellschaftliche Schließung gegenüber, die für Adorno auch historisch real im Übergang vom Feudalismus zum Frühkapitalismus vonstattengegangen sein muss: »Andererseits muss der Zusammenhang der gesellschaftlichen Einzelhandlungen zur lückenlosen, das Einzelne prädeterminierenden Totalität so sich geknüpft haben wie nie im feudalen Zeitalter«.
Eigentlich verstreute – in Adornos Worten ließe sich sagen nichtidentische – Einzelakte vereinheitlichen sich der Beobachtung nach zum geschlossenen Ganzen des Kapitalismus ohne Lücken, Brüche oder Öffnungen. Ist es auch nach wie vor zutreffend, mit der Totalität die Dominanz der jetzigen Gesellschaftsform auszusprechen, aus der man eben als Einzelne nicht einfach austreten kann, so kippt der Begriff der Totalität jedoch immer wieder in der aufgezeigten Weise in Richtung eines Prozesses der kulturellen, sozialen und ästhetischen Homogenisierungsbewegung. In Anknüpfung an Joseph Vogl kann Macht hingegen als Öffnung und weitergehend als offene Totalität gedacht werden:
»Mit der Funktionsweise von digitalen Protokollen geht es also nicht bloß um eine arbiträre und externe Steuerung distributiver Netzwerke. Protokolle lassen sich vielmehr – in der Terminologie Bruno Latours – als ›Inskriptionen‹ begreifen, mit denen Informationen als immutable mobiles transportabel, stabil und kombinierbar gemacht werden; die Kräfte der Dezentralisierung, der Öffnung, der Vernetzung und der Selbstorganisation werden selbst zu einem kontrollierenden Programm«.
Technik trägt insbesondere in Form der Internetprotokolle Teile jener Prozesse in sich, die Adorno als Gesellschaft in ihrer Totalität beschrieben hat. Diese Totalität ist nicht mehr nur allein in ihren einbegreifenden Eigenschaften zu verstehen. Mit Galloway und Vogl ist Gesellschaft vielmehr als Verteilung und Öffnung wirksam und, wie ich anfügen möchte, damit als offene Totalität. Sie bereitet die gesellschaftliche Verdichtung vor, die sich in der Passage zum Plattformkapitalismus abzeichnet. Offene Totalität fällt unter Félix Guattaris Begriff des ›Integrierten Weltweiten Kapitalismus‹, in dem jede Regung, jeder Impuls, jeder Affekt, jeder Klick verwertet werden kann.
Über Technik will Adorno noch in aller Deutlichkeit festhalten: »Nicht die Technik ist das Verhängnis, sondern ihre Verfilzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen«. Für eine solche Verfilzung aber sorgen Algorithmen und vor allem Protokolle (und nach wie vor die notwendige Extraktion der Rohstoffe, die für die Fabrikation der Hardware unerlässlich ist).
Zur einfacheren Lesbarkeit wurden die Literatur- und Quellverweise entfernt.
Tuschling, A. (2023). Offene Totalität. Internetprotokolle in der spätkapitalistischen Gesellschaft. In: Plener, P., Werber, N., Wolf, B. (eds) Das Protokoll. AdminiStudies. Formen und Medien der Verwaltung, vol 2. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg