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Haben Patient*innen die moralische Pflicht, ihre klinischen Daten für Forschung bereitzustellen?

01/2024

Eine kritische Prüfung möglicher Gründe – Teil 1

Einleitung

Die Sekundärnutzung klinischer Daten in datensammelnden, nicht-interventionellen Forschungs- und Lernaktivitäten – auf Englisch „secondary use of clinical data in data-gathering, non-interventional research or learning activities“, daher im Folgenden abkürzend als „SeConts“ bezeichnet – birgt großes Potenzial. Es wird allgemein angenommen, dass SeConts einen wichtigen Beitrag zur Gewinnung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Biomedizin und zur Verbesserung der klinischen Versorgung leisten kann. International existieren zahlreiche Initiativen zur Ermöglichung und Förderung von SeConts. In Deutschland strebt die Medizininformatik-Initiative (MII) den Aufbau einer digitalen Infrastruktur zwischen allen Universitätsklinika an, um klinische Daten vernetzt nutzbar und somit die systematische Durchführung von SeConts möglich zu machen. Voraussetzung für die Realisierung der Potenziale von SeConts ist jedoch nicht allein die technische und organisatorische Infrastruktur. SeConts ist auch abhängig davon, dass die klinischen Daten der Patient*innen genutzt werden dürfen, z. B. auf Grundlage einer Einwilligung seitens der Patient*innen. Aus ethischer Sicht stellt sich die Frage, ob Patient*innen angesichts der Nutzenpotenziale von SeConts ihre klinischen Daten zur Verfügung stellen sollen. Die Fragestellung der vorliegenden Arbeit lautet: Welche Gründe für eine moralische Pflicht von Patient*innen, ihre Daten für SeConts bereitzustellen, kommen in Betracht und wie sind sie im Einzelnen ethisch zu bewerten?

Die Beantwortung dieser ethischen Frage ist in mehrfacher Hinsicht relevant und dringlich: erstens für Patient*innen, denen in Zukunft vermehrt die Frage gestellt werden wird, ob sie in die Bereitstellung ihrer Daten für SeConts einwilligen. Relevanz besteht zweitens für die Debatte darüber, ob und inwieweit Abstriche vom Ideal der klassischen (spezifischen) Form der informierten Einwilligung, z. B. im Falle einer breiten Einwilligung oder gar einer systematischen Nutzung ohne explizite Einwilligung und nur mit Widerspruchsmöglichkeit (Opt-Out) ethisch akzeptabel sind. Drittens ist die folgende ethische Analyse auch für die rechtwissenschaftliche und rechtsethische Diskussion der Frage relevant, welche Bedingungen für eine juristisch verhältnismäßige Weiterverarbeitung klinischer Daten für Forschungszwecke erfüllt werden müssen.

Die Frage nach Gründen für eine moralische Pflicht von Patient*innen, klinische Daten für SeConts bereitzustellen, hat bisher keine große Aufmerksamkeit in der bioethischen Literatur erfahren. Die meisten Texte, die auf die Frage eingehen, streifen sie nur als einen Aspekt im Rahmen einer anderen übergeordneten Fragestellung. Porsdam Mann et al. gehen bei der Ausarbeitung eines ethischen Rahmenwerks für die Sekundärnutzung klinischer Daten davon aus, dass Patient*innen im Rahmen einer Rettungspflicht (duty to easy rescue) die Pflicht haben, ihre Daten für SeConts bereitzustellen. Ballantyne und Schaefer argumentieren mit Blick auf die Notwendigkeit einer informierten Einwilligung für SeConts mit Daten aus einem öffentlichen Gesundheitssystem, dass die Gesellschaft einen legitimen Anspruch auf die Datennutzung in SeConts hat. Faden et al. führen die Pflicht von Patient*innen, klinische Daten für SeConts bereitzustellen, als eine von insgesamt sieben Pflichten für die Stakeholder eines noch zu etablierenden zukünftigen Lernenden Gesundheitssystems an. Nur Cohen geht der Frage ausführlicher nach und sieht Patient*innen in der Pflicht, ihre klinischen Daten für SeConts bereitzustellen, da sie selbst von SeConts profitieren. Eine weitere Limitierung der Literatur besteht darin, dass die einzelnen Beiträge zur Debatte alle jeweils nur auf ein einzelnes Argument eingehen, um eine Pflicht von Patient*innen, ihre klinischen Daten für SeConts bereitzustellen, zu begründen, und dabei mögliche weitere Gründe unbeachtet lassen. Im Gegensatz dazu hat der vorliegende Artikel den Anspruch, ein breiteres Spektrum an potenziellen Gründen für eine Pflicht von Patient*innen, ihre klinischen Daten für SeConts bereitzustellen, in den Blick zu nehmen und im Rahmen eines systematischen Ansatzes jeden einzelnen Grund ethisch zu analysieren und zu bewerten. Hierzu greifen wir drei Arten von Gründen auf:

(1) die soeben angesprochenen Gründe aus der bestehenden Debatte um die Pflicht, klinische Daten für SeConts bereitzustellen,

(2) Gründe aus der bioethischen Diskussion um eine mögliche moralische Pflicht von Patient*innen, an interventioneller klinischer Forschung teilzunehmen und

(3) weitere Gründe, die wir in die Diskussion einführen, da wir sie für ethisch plausibel halten.

Der Artikel gliedert sich wie folgt: Einführend werden wichtige Begrifflichkeiten geklärt, SeConts wird an einem konkreten Beispiel veranschaulicht und der ethisch-normative Hintergrund wird erläutert. Daraufhin werden die Risiken und der potenzielle Nutzen von SeConts dargelegt. Im anschließenden Hauptteil werden mögliche Gründe für eine Pflicht von Patient*innen, ihre klinischen Daten für SeConts bereitzustellen, auf ihre Plausibilität hin überprüft. Im letzten Abschnitt findet sich als erstes Ergebnis ein Gesamtrückblick auf die einzelnen Gründe für eine mögliche Pflicht von Patient*innen, ihre klinischen Daten für SeConts bereitzustellen. Als zweites Ergebnis wird in einer Art Ausblick dafür argumentiert, dass es ausreichend Gründe für eine prima facie Pflicht gibt. Zuletzt wird die praktische Relevanz dieser Ergebnisse erläutert.

Hintergrund

Die Daten, um deren Bereitstellung es in dieser Arbeit geht, werden im Zuge der Diagnostik und Behandlung von Patient*innen innerhalb eines öffentlichen Gesundheitssystems erzeugt, wie es für viele europäische Länder typisch ist. Konkret bezieht sich die Fragestellung dieses Artikels auf die Daten gesetzlich versicherter Patient*innen im deutschen Gesundheitssystem. Die meisten Ausführungen des Artikels gelten jedoch auch für die Mitglieder privater Krankenversicherungen. Unter den synonym gebrauchten Begriffen „bereitstellen“ und „zur Verfügung stellen“ klinischer Daten wird im Folgenden sowohl das Erteilen einer Einwilligung in die Datennutzung vonseiten der Patient*innen verstanden (z. B. durch eine breite Einwilligung) als auch eher passiv das Nicht-Wahrnehmen der Widerspruchsmöglichkeit (Opt-Out) im Falle einer systematischen Durchführung von SeConts ohne explizite Einwilligung.

Den Ablauf der Verwendung der Daten in SeConts kann man sich beispielhaft – angelehnt an die MII – folgendermaßen vorstellen: Klinische Daten, die im Zuge der Diagnostik und Behandlung im klinischen Informationssystem der behandelnden Klinik hinterlegt werden, werden für Forschungszwecke zusätzlich im sogenannten Datenintegrationszentrum (DIZ) des jeweiligen Klinikstandorts gespeichert. Externe Forscher*innen können nun beim DIZ einen Antrag auf Datennutzung stellen, welcher, nach Prüfung und Bewilligung durch ein Datennutzungs- und Zugangskomitee, in einem vertraglich festgelegten Rahmen genehmigt werden kann.

Die hier vorgebrachten ethischen Analysen erfolgen aus einer ethisch-normativen Perspektive, die man als „sorgenden Liberalismus“ bezeichnen kann und die den Versuch darstellt, Rawls’ sogenannten egalitären Liberalismus für das Feld der anwendungsorientierten Forschungs- und Medizinethik weiterzuentwickeln. Dabei wird der Fürsorge, die, sei es als Prinzip oder als Tugend, für die Ethik in Medizin und Forschung von großer Bedeutung ist, angemessen und in einem liberalen, nicht-paternalistischen Sinne Rechnung getragen. Auf grundlegender Ebene sieht der sorgende Liberalismus in Anknüpfung an die klassische liberale Denklinie die Menschen als Träger von gleichen Grundfreiheiten, zu denen neben klassischen Freiheitsrechten wie der Meinungs‑, Religions- und Gewissensfreiheit auch der Schutz der Privatsphäre und die informationelle Selbstbestimmung gehören. Die Einschränkung individueller Grundfreiheiten bedarf stets einer Rechtfertigung und ist nur dann legitim, wenn dadurch die Grundfreiheiten anderer Individuen oder Grundgüter (wie Bildung oder Gesundheit) wesentlich geschützt oder gefördert werden. Im Sinne der Fürsorge hat das Individuum die moralische Pflicht, andere Individuen dabei zu unterstützen, die nötigen Mittel und Voraussetzungen zu erlangen, um Grundfreiheiten im Sinne eines selbstbestimmten Lebens auch wirklich auszuüben. Auf gesellschaftlich-politischer Ebene hat das Individuum die Pflicht zur Unterstützung der demokratisch-rechtsstaatlichen Institutionen – die ihrerseits u. a. die Freiheiten der Bürger*innen schützen und den Einzelnen dabei unterstützen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Risiken und Nutzen von SeConts

Die Risiken und der potenzielle Nutzen von SeConts sind mehr oder weniger für die ethische Analyse aller Argumente bezüglich einer möglichen Pflicht von Patient*innen, ihre Daten für SeConts bereitzustellen, relevant, weshalb sie an dieser Stelle gezielt vorab erläutert werden. Hierbei beschränken wir uns auf Risiken für Patient*innen, da es im Artikel um sie bzw. ihre mögliche Pflicht geht.

Elementar für die Bewertung der Risiken für Patient*innen ist die Art der in SeConts verwendeten Daten. Vor der Herausgabe der Daten an SeConts werden die Daten der Patient*innen de-identifiziert, d. h. es werden alle direkt identifizierenden Attribute wie Name, Adresse oder Geburtsdatum aus den Daten gelöscht (und ggf. durch Codes ersetzt). De-identifizierte Daten sind jedoch nicht notwendigerweise anonym. Zwar können einzelne Daten, wie z. B. Blutdruckwerte, durchaus anonym sein. Jedoch benötigt Forschung in aller Regel Datensätze, die Krankheitsgeschichten in Breite und Tiefe abbilden und aufgrund ihrer Feingranularität in der Regel nicht mehr als anonym gelten können. Für die Patient*innen kann also eine mögliche Verletzung der Vertraulichkeit ihrer Daten durch unerlaubte Re-Identifizierung nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Im Falle einer unbefugten Re-Identifizierung sind weitere negative Konsequenzen für Patient*innen denkbar, z. B. verschiedene Formen des Datenmissbrauchs, angefangen von personalisierter Werbung bis hin zu Diskriminierung, Identitätsdiebstahl und Erpressung. Als ein weiteres Risiko ist theoretisch auch ein negativer Effekt auf die Arzt-Patienten-Beziehung denkbar, wenn Patient*innen aus Sorge um den Schutz ihrer Daten in SeConts das Vertrauen in die Privatheit der Kommunikation mit ihren Ärzt*innen verlieren. Auf eine solche Sorge können Patient*innen allerdings reagieren, indem sie der Datennutzung in SeConts widersprechen (durch Verweigerung der Einwilligung oder Opt-Out) – weshalb diesem Risiko hier nicht weiter nachgegangen wird. Die Eintrittswahrscheinlichkeit der anderen genannten, informationellen Risiken in SeConts lässt sich zurzeit nicht leicht einschätzen. Dennoch erscheint es aus folgenden Gründen plausibel, dass SeConts, zumindest in Deutschland, keine signifikante Erhöhung der abstrakt bestehenden Datenschutzrisiken darstellt, die bereits durch die Speicherung der Daten im Rahmen der klinischen Versorgung bestehen: (1) Bisher sind wenig Berichte über Datenpannen oder -diebstahl im Forschungskontext bekannt geworden. (2) Klinische Daten liegen bei SeConts – im Gegensatz zu elektronischen Dokumentationssystemen in Kliniken und Arztpraxen – in der Regel de-identifiziert vor. Eine Re-identifizierung von Patient*innen auf Grundlage dieser Daten ist äußerst aufwändig und ggf. unmöglich. (3) Zumindest in Deutschland gibt es ein ausgeprägtes allgemeines Bewusstsein für Datenschutz sowie ein hohes Maß an technisch-organisatorischen Maßnahmen zum Schutz von (klinischen) Daten.

Was den potenziellen Nutzen von SeConts betrifft, so ist zwischen dem potenziellen Eigennutzen für datengebende Patient*innen und dem potenziellen Fremdnutzen für zukünftige Patient*innen sowie das Gesundheitswesen insgesamt zu unterscheiden. Ein Eigennutzen für die datengebenden Patient*innen ist sehr unwahrscheinlich. Obwohl SeConts einen starken Praxisbezug aufweist und z. B. Studien zur Arzneimittelsicherheit oder Qualitätsverbesserungsstudien umfasst, dürfte es gewöhnlich für einen Eigennutzen zu lange dauern, bis Kenntnisse aus SeConts in klinisch relevante Veränderungen umgesetzt werden. Auch ein möglicher Eigennutzen für Patient*innen durch sogenannte Zufalls- oder Zusatzbefunde, d. h. durch gesundheitsrelevante Informationen, welche im Rahmen einer sekundären Datenanalyse außerhalb des Behandlungskontexts entdeckt werden, erscheint im Falle von SeConts sehr ungewiss. Aufgrund der geringen Wahrscheinlichkeit für einen Eigennutzen für Patient*innen gehen wir bei den folgenden Überlegungen aus Gründen der Einfachheit und Klarheit der Fragestellung davon aus, dass es kein (ethisch) relevantes Potenzial für Eigennutzen gibt.

Demgegenüber birgt SeConts jedoch ein erhebliches und ethisch relevantes Nutzenpotenzial für ein besseres wissenschaftliches Verständnis von Krankheiten und eine bessere Diagnose und Behandlung zukünftiger Patient*innen. Dies bedeutet nicht, dass jede Form von SeConts notwendigerweise einen maßgeblichen Teil zu dieser Verbesserung beiträgt. Auch zeigen Erfahrungen, besonders aus der Grundlagenforschung, dass Forschungsergebnisse häufig gar nicht und wenn, dann sehr spät eine Auswirkung auf die Behandlung haben. Für ein hohes Nutzenpotenzial von SeConts sprechen jedoch u. a. die folgenden Gründe: (1) SeConts kann in einer Vielzahl verschiedener Studientypen durchgeführt werden und dabei ein sehr breites Spektrum an möglichen Forschungsgebieten abdecken. (2) Viele Formen von SeConts sind explizit anwendungsbezogen und wurden bereits praktisch durchgeführt. Die Anwendungsbezogenheit von SeConts garantiert zwar keinen Nutzen, macht diesen aber im Vergleich zu reiner Grundlagenforschung wahrscheinlicher. (3) Die Daten können über einen langen Zeitraum immer wieder in wechselnden Formaten verwendet werden. (4) Die Daten können nicht nur zur Erforschung der Erkrankung der datengebenden Patient*innen verwendet werden, sondern auch für andere Fragestellungen (u. a. als virtueller Kontrollarm). Die Gruppe von Personen, die potenziell von den Daten einer Patientin in SeConts profierten kann, ist somit nicht auf die Gruppe zukünftiger Patient*innen mit der gleichen Erkrankung beschränkt. (4) Besonderes Potenzial besteht für zukünftige Patient*innen mit seltenen Erkrankungen aufgrund der Möglichkeit, durch Aggregation von Datensätzen verschiedener Standorte große Datensätze zu erzeugen. Dieser Punkt ist auch wichtig angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierung (Stratifizierung) von Krankheiten (z. B. molekularbasiert in der Onkologie oder generell unter dem Schlagwort der „Personalisierten Medizin“), die durch neue Subtypen zu neuen seltenen Erkrankungen führt.

Damit durchzuführende SeConts das vorhandene Nutzenpotenzial auch wirklich ausschöpfen kann, sollte man vorab gewisse Anforderungen an deren Durchführung stellen, indem z. B. die Einhaltung guter wissenschaftlicher Praxis oder die Vorregistrierung von Studien verlangt werden. Eine weitere Voraussetzung für SeConts und die Ausschöpfung des Nutzenpotenzials besteht darin, dass Kliniken, in denen die Daten erhoben werden, diese Daten auch wirklich für SeConts zur Verfügung stellen, womit aber gerechnet werden kann.

Mögliche Argumente für eine Pflicht zur Bereitstellung klinischer Daten

Welche Gründe sprechen für eine Pflicht von Patient*innen, ihre Daten für SeConts bereitzustellen?

Allgemeine Hilfspflicht

Hier ist zunächst an die allgemeine Hilfspflicht zu denken, nach der jeder die moralische Pflicht hat, Menschen Hilfe zu leisten, wenn sie diese benötigen und die Hilfe dem potenziell Helfenden zumutbar ist. Für das Bestehen einer allgemeinen Hilfspflicht gibt es gute Gründe: Kant betont, dass eine allgemeine Hilfspflicht (Wohltätigkeitspflicht) deshalb existiert, weil eine Ablehnung derselben als allgemeingültige Maxime ein Widerspruch des vernünftigen Willens wäre und der Zweckformel des kategorischen Imperativs widerspräche. Rawls argumentiert, dass eine allgemeine Hilfspflicht im Urzustand beschlossen würde, weil sie eine positive und „tiefgreifende Wirkung auf die Qualität des täglichen Lebens“ mit sich bringt. Eine besondere Unterart der Hilfspflicht ist die Rettungspflicht. Porsdam Mann et al. nennen sie als Grund für eine Pflicht von Patient*innen, ihre Daten für SeConts bereitzustellen.

Diese Stoßrichtung geht jedoch fehl, weil, wie weiter unten dargelegt werden wird, die Bereitstellung von Daten für SeConts nicht mit einer Rettung gleichgesetzt werden kann. Ungeachtet dieser Ablehnung der Anwendung des Rettungsarguments auf die hier vorliegende Fragestellung informiert jedoch die seit Jahrzehnten andauernde ethische Debatte um globale Hilfs- und Rettungspflichten die hier durchgeführte Analyse der Bedingungen, die für das Vorliegen einer Hilfspflicht erfüllt sein müssen bzw. sich als Faktoren auf die Stärke der Pflicht bzw. den Grad der Verbindlichkeit auswirken. Diese Bedingungen werden im Folgenden dargelegt und es wird gezeigt, dass sie im Hinblick auf die hier vorliegende Fragestellung unter bestimmten Voraussetzungen erfüllt sind.

Bedingung 1: Vorliegen einer Situation der Hilfsbedürftigkeit

Die allgemeine Hilfspflicht besteht vor allem, wenn die Versorgung einer Person mit Grundgütern mangelhaft oder bedroht ist. Hier wird davon ausgegangen, dass Gesundheit ein Grundgut ist und Krankheiten eine Hilfsbedürftigkeit begründen, auch wenn nicht alle Krankheiten gleichermaßen belastend und bedrohlich sind.

Bedingung 2: Effektivität des möglichen Helfens

Damit eine mögliche Handlung vorab als Akt des Helfens interpretiert werden kann, muss sie mit einer den Umständen entsprechend angemessen großen Wahrscheinlichkeit einen helfenden Effekt für Hilfsbedürftige mit sich bringen. Dies ist bei SeConts der Fall: Die Bereitstellung klinischer Daten ist mit einer angemessen hohen Wahrscheinlichkeit ein relevanter Beitrag zu SeConts und damit zur Hilfe für zukünftige Patient*innen (zum Nutzenpotenzial von SeConts, vgl. Kapitel Risiken und Nutzen von SeConts). Gegen diese Annahme sind drei mögliche Einwände denkbar: (1) Man könnte anmerken, dass die klinischen Daten von Patient*innen erst dann einen Nutzen bringen, wenn eine gewisse, für die Durchführung von SeConts notwendige „kritische Masse“ anderer Patient*innen ebenfalls ihre klinischen Daten für SeConts bereitstellt. Somit wäre zu bezweifeln, dass die Bereitstellung der eigenen Daten bereits eine Hilfeleistung darstellt. Dem ist zu entgegnen, dass durch (nationale oder gar internationale) Vernetzung rasch signifikante Kohortengrößen entstehen können und, je nach Art von SeConts, auch wenige Datensätze schon einen Nutzen erzeugen, z. B. bei der Generierung von Hypothesen für zukünftige Forschung. (2) Zusätzlich könnten Kritiker einwenden, es sei ungewiss, dass SeConts zu einer Verbesserung der Versorgung führt, womit auch die Bereitstellung klinischer Daten für SeConts kaum mehr als Hilfeleistung zu werten wäre. Hierauf sind zwei Punkte zu erwidern: (a) In alltäglichen Lebensbereichen gibt es zahlreiche Handlungen, die als Hilfeleistungen gelten, obwohl es nur wahrscheinlich, aber nicht gewiss ist, dass sie tatsächlich helfen (z. B. bei einer kleinen Spende von Geld oder Kleidern für Menschen nach Naturkatastrophen). (b) Bereits im Kapitel Risiken und Nutzen von SeConts wurde das hohe grundsätzliche Nutzenpotenzial von SeConts dargelegt. Selbstverständlich lässt sich vorab nicht bestimmen, wie groß die Bedeutung der klinischen Daten einzelner Patient*innen für zukünftige nützliche Ergebnisse aus SeConts sein wird. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass die Daten früher oder später bzw. in der Summe ihrer Verwendungen einen, wenn auch eher kleinen, Beitrag zur Erzeugung von behandlungsrelevantem Wissen leisten werden. Dieser Nutzen kann jedoch nicht als Rettung gelten, da er nicht vergleichbar ist mit einer wirklichen (Not‑)Rettung, wie z. B. dem Werfen eines Rettungsrings an einen Ertrinkenden. Das Argument der „Rettung“, wie von Porsdam Mann et al. mit dem Begriff der Rettungspflicht (duty to easy rescue) vertreten, ist daher für SeConts unangebracht. (3) Man könnte einwenden, dass eine Hilfspflicht nicht gegenüber Personen vorliegen kann, die zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht hilfsbedürftig und auch nicht konkret bekannt sind. Dieser Einwand macht deutlich, dass die allgemeine Hilfspflicht im Falle der Bereitstellung klinischer Daten für SeConts nicht die gleiche Dringlichkeit hat, wie in Situationen mit einem konkreten, hilfsbedürftigen Gegenüber. In komplexen sozialen Zusammenhängen wie unserer modernen Gesellschaft allgemein sowie dem Gesundheitswesen im Speziellen erstreckt sich die allgemeine Hilfspflicht jedoch über das hilfsbedürftige Gegenüber hinaus auch auf weitere Bereiche wie das Antizipieren zukünftiger Bedürftigkeit. Auch wenn wir nicht wissen, wer in Zukunft krank sein wird, so wissen wir, dass es in der Zukunft Kranke geben wird, die Hilfe benötigen.

Bedingung 3: Zuständigkeit der helfenden Person

Eine Hilfspflicht besteht für eine Person insbesondere dann, wenn die Person „zuständig“ ist, insofern die Hilfeleistung nicht ebenfalls von anderen Personen gleichermaßen ausgeführt werden könnte. In SeConts werden klinische Daten einer großen Zahl von Patient*innen aggregiert, so dass der Beitrag Einzelner auf den ersten Blick unwichtig erscheinen mag. Sicherlich lässt sich, wie bereits erwähnt, vorab nicht mit Gewissheit vorhersehen, ob der Datensatz einer/s Patient*in einen relevanten Beitrag für SeConts leisten wird. Jedoch ist grundsätzlich der Datensatz jedes/jeder einzelnen Patient*in einzigartig und in diesem Sinne bedeutsam, auch wenn er in großen Datensätzen eventuell nur geringes Gewicht entfalten wird. Für den potenziellen Wert jedes einzelnen Datensatzes spricht auch die bereits erwähnte zunehmende Ausdifferenzierung (Stratifizierung) von Krankheiten, wie sie bereits im Kapitel zu Risiken und Nutzen von SeConts erläutert wurde, die jeden Datensatz potenziell wertvoll werden lässt.

Bedingung 4: Zumutbarkeit der Hilfeleistung

Damit eine Handlung als Gegenstand einer Hilfspflicht gelten kann, darf sie die zuständige Person nicht unverhältnismäßig stark belasten, sondern muss zumutbar sein. Den ersten wichtigen Aspekt von Zumutbarkeit stellen die Kosten dar, welche die geforderte Hilfsleistung für die hilfeleistende Person mit sich bringt. Hierunter zählen sowohl (a) konkrete Kosten durch den Einsatz von quantifizierbaren Ressourcen (Kraft, Zeit, Geld), als auch (b) Risiken für oder Einschränkungen von nicht-quantifizierbaren Werten, Interessen und Rechten, z. B. des Datenschutzes. Um zumutbar zu sein, müssen alle Kosten für die helfende Person in einem angemessenen Verhältnis zu einem zweiten Aspekt stehen: dem potenziellen Nutzen für die hilfsbedürftige Person. Dieser Nutzen setzt sich aus der Wahrscheinlichkeit des Eintretens der intendierten Hilfe und dem Ausmaß („Größe“ oder „Wichtigkeit“) der Hilfe für die hilfsbedürftige Person zusammen. Was nun die Zumutbarkeit bei SeConts betrifft, so entstehen bei der Bereitstellung von Daten für SeConts in der Regel nur geringe konkrete Kosten für Patient*innen (a), da die Daten im Behandlungskontext ohnehin erhoben werden. Der Akt der Bereitstellung selbst (in Form der informierten Einwilligung) stellt einen vernachlässigbaren zeitlichen Aufwand für Patient*innen dar. Die möglichen Risiken (b) für Vertraulichkeit und informationelle Selbstbestimmung von Patient*innen wurden bereits als gering eingestuft (siehe Kapitel zu Risiken und Nutzen von SeConts).

Für die Zumutbarkeit entscheidend ist nun, in welchem Verhältnis die Kosten (mit den möglichen Risiken als dem vorrangig relevanten Kostenfaktor) zum potenziellen Nutzen stehen. Die Bewertung der Zumutbarkeit kann hier nur im Rahmen einer groben Einschätzung und Abwägung erfolgen. Dabei kommen wir zu dem Schluss, dass SeConts als zumutbar gelten kann, sofern die Voraussetzungen erfüllt werden, welche im Kapitel Risiken und Nutzen von SeConts erwähnt wurden: ein hohes Datenschutzniveau sowie Maßnahmen zur Ausschöpfung des Nutzenpotenzials, z. B. durch die Einforderung guter wissenschaftlicher Praxis. Im Rahmen einer systematischen Durchführung von SeConts wäre es die Aufgabe einer adäquaten Governance, diese für die Zumutbarkeit relevanten Bedingungen entsprechend zu adressieren und so die Zumutbarkeit für Patient*innen zu gewährleisten.

Fassen wir nun nochmal in Kürze zusammen, inwiefern die für das Vorliegen der allgemeinen Hilfspflicht relevanten Bedingungen gegeben sind: (1) Hilfsbedürftigkeit ist bei Kranken grundsätzlich zu bejahen. (2) Die Effektivität der Hilfeleistung durch die Bereitstellung der klinischen Daten einzelner Patient*innen ist zwar vom Umfang her eher klein, aber dennoch wahrscheinlich und daher letztlich zu bejahen. (3) Die Zuständigkeit der helfenden Person ist ebenfalls aufgrund der Einzigartigkeit jeder Krankheitsgeschichte gegeben. (4) Die Zumutbarkeit ist unter den genannten Bedingungen ebenfalls gegeben. Die allgemeine Hilfspflicht stellt somit einen starken moralischen Grund für eine Pflicht von Patient*innen dar, ihre Daten für SeConts bereitzustellen.

Solidarität

Im Zusammenhang mit der Frage nach den Pflichten von Patient*innen gegenüber der Gesellschaft wird auch Solidarität als moralischer Grund für eine Mitwirkung an biomedizinischer Forschung genannt. Um zu klären, ob Solidarität als moralischer Grund für eine Pflicht zur Bereitstellung von Daten in Betracht kommt, müssen zwei Ebenen betrachtet werden. Zunächst ist auf einer grundsätzlichen Ebene der Begriff der Solidarität zu klären und zu fragen, ob das, was unter dem Begriff zu verstehen ist, überhaupt eine Pflicht oder ein moralischer Grund für Pflichten sein kann. Die zweite Ebene betrifft die Frage, ob der Begriff der Solidarität, unter der Annahme, dass er sich als ein moralisch belastbarer Begriff herausstellt, auf die Frage nach einer Pflicht zur Bereitstellung klinischer Daten für SeConts angewendet werden kann. Im Rahmen einer Analyse in gebotener Kürze, die der Komplexität des Begriffs nicht voll gerecht wird, wird im Folgenden auf beiden Ebenen eine kritische Perspektive gegenüber dem Solidaritätsbegriff eingenommen.

Der Begriff der Solidarität hat eine lange und vielfältige Tradition und wird unter anderem in der Soziologie und der Philosophie sowie in den letzten Jahren auch immer häufiger in der Bioethik behandelt. Außerhalb der akademischen Debatte findet der Begriff auch in der Politik als häufig verwendeter Appell oder gar Kampfbegriff Anwendung. Wir beziehen uns hier auf den Begriff der Solidarität, wie er in der bioethischen Debatte, gerade auch in Zusammenhang mit Datenbanken, wohl am prominentesten von Prainsack und Buyx vertreten wird. Die beiden Autorinnen verstehen Solidarität als „Praktiken, welche eine Bereitschaft dazu widerspiegeln, Kosten in Kauf zu nehmen, um anderen zu helfen. […] Diese Bereitschaft […] basiert regelmäßig auf dem Erkennen von Gemeinsamkeiten mit einer anderen Person […] in mindestens einer im gegebenen Kontext relevanten Hinsicht“.

Ein wichtiger Bedeutungsaspekt des Begriffs der Solidarität ist die Bereitschaft, unter Inkaufnahme von Kosten zu helfen. Dieser Aspekt stellt eine deutliche Gemeinsamkeit mit der bereits vorgestellten Hilfspflicht dar. Die obige Bewertung, dass die Hilfspflicht ein starkes Argument ist, steht somit dem Begriff der Solidarität nahe. Die moralische Norm, dass man anderen helfen soll, wird jedoch besser und klarer durch den Begriff der Hilfspflicht ausgedrückt, während der Begriff der Solidarität noch andere Bedeutungsaspekte hat, die offene Fragen aufwerfen. Bereits auf grundsätzlicher Ebene des Begriffs der Solidarität und seines moralischen Gehalts stellen sich folgende Fragen: (1) Der Status des Begriffs der Solidarität ist häufig unklar. Handelt es sich um einen deskriptiven oder einen normativen Begriff? Prainsack und Buyx beispielsweise betonen, dass Solidarität eine soziale Praxis darstellt und sich nicht auf normative Weise auf ein Ideal oder einen Wert bezieht. Sie merken jedoch an, dass Solidarität normative Implikationen haben könne. (2) Die Verknüpfung von Solidarität mit dem (subjektiven) Wahrnehmen von Gemeinsamkeiten bzw. Ähnlichkeiten zwischen Helfendem und Hilfsbedürftigen ist vor allem bei einer deskriptiven Verwendung intuitiv plausibel und in der Theoriegeschichte der Solidarität, wenngleich in unterschiedlicher Form, weit verbreitet. Ein normativ-ethischer Solidaritätsbegriff auf der Basis von Gemeinsamkeiten ist allerdings erklärungsbedürftig. Es gibt verschiedene Aspekte zwischen Menschen, die als relevante Gemeinsamkeiten und damit entscheidender Faktor für solidarisches Handeln wahrgenommen werden können: eine konkrete Notsituation, in der man sich zusammen mit anderen befindet; eine Krankheit; die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen wie z. B. die der Weißen, der Landwirte oder eines ehemaligen Kampfverbandes. Nicht alle diese Gemeinsamkeiten erscheinen als gute moralische Gründe für ein Gebot der Hilfeleistung. (3) Solidarität, die sich auf Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten stützt, ist potenziell ausschließend, anti-universalistisch und daher ethisch problematisch. Zwar ist auch ein universalistischer Solidaritätsbegriff denkbar, der sich auf die gesamte Menschheit bezieht. Die relevante Gemeinsamkeit wäre in diesem Fall das „Menschsein“. Ein derart weites Verständnis von Solidarität verweist jedoch eher auf die allgemeine Hilfspflicht, wie sie im vorigen Abschnitt vorgestellt wurde, da die Begrenzung auf eine bestimmte Gruppe von Personen entfällt.

Obwohl sich schon auf der grundlegenden Ebene offene Fragen ergeben, soll im Folgenden trotzdem noch die potenzielle Anwendbarkeit des Solidaritätsbegriffs auf die in diesem Artikel vorliegende konkrete Fragestellung untersucht werden. Der Bezug auf Solidarität passt auf den ersten Blick gut zum Bereitstellen klinischer Daten durch Patient*innen für SeConts, denn Solidarität stellt ohnehin schon ein de facto anerkanntes politisch-regulatives Kernprinzip des deutschen Gesundheitswesens dar. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch ein gewisser Widerspruch zum Geist des Solidaritätsprinzips im deutschen Gesundheitswesen. Während gemäß dem Prinzip der Solidarität im Gesundheitswesen die Gesunden und Wohlhabenden mit ihren Beiträgen für die Kranken und weniger Wohlhabenden eintreten, würden im Falle der Bereitstellung von Daten für SeConts eher die Kranken, insbesondere die chronisch und schwer Kranken, einen uneigennützigen Beitrag zum Nutzen aller leisten, da im Zuge ihrer Diagnostik und Behandlung in besonders umfangreichem Maße klinische Daten generiert werden. Dies bedeutet, dass die bereits im Kapitel zu Risiken und Nutzen von SeConts angesprochenen – wenngleich geringen – möglichen Belastungen und Risiken, welche mit der Menge der erhobenen Daten potenziell steigen, diejenigen besonders betreffen könnten, die ohnehin bereits durch ihre Erkrankung in höherem Maße belastet sind. Dieser mutmaßlich höhere Beitrag chronisch oder schwer erkrankter Patient*innen ist nicht notwendigerweise ethisch problematisch, lässt sich aber mit dem Prinzip der Solidarität, zu dem er in latenter Spannung steht, nicht gut begründen und verweist eher auf das Prinzip des Zurückgebens, welches später näher erläutert wird.

Die offenen Fragen auf der grundlegenden Ebene sowie die Schwierigkeiten bei der Anwendung auf die Fragestellung dieses Artikels legen nahe, den Kerngehalt des Solidaritätsgedankens, das Hilfsgebot, mit dem Argument der allgemeinen Hilfspflicht auszudrücken, und ansonsten darauf zu verzichten, den Begriff der Solidarität im Sinne eines moralisch-normativen Arguments zugunsten einer Pflicht von Patient*innen, ihre klinischen Daten bereitzustellen, zu verwenden.

Pflicht zu gemeinwohlförderlichem Handeln

Einen weiteren möglichen Grund für eine Pflicht von Patient*innen, ihre klinischen Daten für SeConts bereitzustellen, stellt die Pflicht zu gemeinwohlförderlichem Handeln dar. Die Argumentation mehrerer Autor*innen lässt sich unter eine derartige Pflicht subsumieren: In der Debatte zur Pflicht zur Teilnahme an interventioneller Forschung postulieren Schaefer et al. eine derartige Pflicht mit der Begründung, dass medizinisches Wissen, welches durch biomedizinische Forschung erzeugt wird, allen in der Gesellschaft nütze. In Bezug auf die Bereitstellung von Daten für die Etablierung eines Lernenden Gesundheitssystems argumentieren Faden et al. für eine Pflicht von Patient*innen, ihre klinischen Daten für SeConts bereitzustellen, weil SeConts im Interesse aller ist. Ballantyne und Schaefer postulieren eine Pflicht mit Verweis auf den Anspruch der Gesellschaft, die Daten zu nutzen, welche in den Augen der Autor*innen eine „public ressource“ darstellen.

Die folgende Argumentation schließt sich unter Rückgriff auf den Begriff des gemeinwohlförderlichen Handelns den Ansätzen der genannten Beiträge an, versucht jedoch auch, etwas näher auf die Hintergründe und Anwendungsbedingungen einzugehen. Die Pflicht zu gemeinwohlförderlichem Handeln ist verwandt mit der allgemeinen Hilfspflicht, bezieht sich jedoch nicht direkt auf Individuen, sondern auf die abstrakte Menge der Allgemeinheit und somit auf komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge. Aus diesem Grund spielt bei der Pflicht zu gemeinwohlförderlichem Handeln die Unterstützung von Institutionen zur Förderung des Allgemeinwohls eine große Rolle. Diese Pflicht ist darin begründet, dass der Erhalt gerechter Institutionen für eine gerechte Gesellschaft essenziell ist und ihre Untergrabung jedem auf Dauer schaden würde. Gerechte Institutionen sind solche, welche die gerechte Verteilung von sozialen Gütern und Lasten regeln, Rechte sichern und dafür sorgen, dass Bürger*innen zumindest über ein Minimum an Grundgütern verfügen, das notwendig ist, um ein menschenwürdiges Leben zu führen und persönliche Freiheiten auch wirklich nutzen zu können. Das öffentliche Gesundheitswesen kann als gerechte Institution gelten. Etwas anders verhält es sich mit dem Bereich der universitären und außeruniversitären biomedizinischen Forschung, auch wenn er natürlich eng mit dem öffentlichen Gesundheitswesen verbunden ist: Er ist nicht im Sinne sozialer Gerechtigkeit als gerechte Institution anzusehen. Allerdings dient er – u. a. durch seine enge Verbindung zum Gesundheitswesen – auch dem Gemeinwohl, weshalb auch seine Förderung unter die Pflicht zu gemeinwohlförderlichem Handeln subsumiert werden kann.

Damit die Pflicht zu einem bestimmten gemeinwohlförderlichen Handeln vorliegt, müssen, analog zur allgemeinen Hilfspflicht (siehe oben), folgende Bedingungen erfüllt sein: Vorliegen eines legitimen öffentlichen Bedarfs (Interesses); Effektivität der gemeinwohlförderlichen Handlung; Zuständigkeit der gemeinwohlförderlich handelnden Person; Zumutbarkeit der gemeinwohlförderlichen Handlung. All diese Bedingungen sind in Bezug auf die Bereitstellung klinischer Daten für SeConts erfüllt: Die stetige Verbesserung der hochkomplexen öffentlichen Gesundheitsversorgung ist ohne Zweifel im öffentlichen Interesse. Auch wurde bereits erläutert, dass die Beteiligung an SeConts durch die Bereitstellung klinischer Daten einen kleinen, aber dennoch effektiven Beitrag zur Verbesserung der medizinischen Versorgung leistet, was auch einen effektiven Dienst am Gemeinwohl darstellt. Über den Nutzen für zukünftige Patient*innen hinaus erstreckt sich der Nutzen einer verbesserten Gesundheitsversorgung (indirekt) auch auf Gesunde, die durch eine hochwertige Gesundheitsversorgung und gesundheitliche Präventionsmaßnahmen profitieren und auch mittelbare Vorteile aus einer „gesünderen Gesellschaft“ ziehen. Die Bedingung der Zuständigkeit der helfenden Person als ein für den Grad der Verbindlichkeit relevanter Faktor sowie die Bedingung der Zumutbarkeit der Hilfeleistung lassen sich direkt von den obigen Ausführungen zur allgemeinen Hilfspflicht übertragen.

Aus Vorangegangenem folgt, dass das Argument der Pflicht zu gemeinwohlförderlichem Handeln unter den genannten Bedingungen einen starken moralischen Grund für eine Pflicht von Patient*innen darstellt, ihre Daten für SeConts bereitzustellen.

Zur einfacheren Lesbarkeit wurden die Quell- und Literaturverweise entfernt.

Jungkunz, M., Köngeter, A., Mehlis, K. et al. Haben Patient*innen die moralische Pflicht, ihre klinischen Daten für Forschung bereitzustellen? Eine kritische Prüfung möglicher Gründe. Ethik Med 34, 195–220 (2022)

https://doi.org/10.1007/s00481-022-00684-z

http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de


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