4 Individuelle Privatheit als selbstbestimmter Aushandlungsprozess
Während in Bezug auf IT-Infrastrukturen und die gesellschaftliche Funktion des Privaten überindividuelle Regulierungs- und Ordnungsfragen im Fokus stehen, verbinden komplementäre Ansätze das Recht auf Privatheit mit den Freiheits- und Selbstbestimmungsrechten des Individuums. Insbesondere ausgehend von dem 1983 getroffenen Volkszählungsurteil wird mit dem Konzept der individuellen informationellen Selbstbestimmung der Wert des Privaten als unverzichtbarer Bestandteil gelingender Demokratien gesehen, der gegen die schleichende Transformation in eine Überwachungs- oder Kontrollgesellschaft verteidigt werden muss. Der Schutz des und der Einzelnen vor der unkontrollierbaren Freigabe von personenbezogener Information ist nach dem Konzept der informationellen Selbstbestimmung eine elementare Voraussetzung für die Ausbildung einer reflektierten Ich-Identität – also einer Identität, die es dem Individuum ermöglicht, sich selbst zu bestimmen und bestimmte Handlungsoptionen zu prüfen beziehungsweise zu verwerfen.
Allgemein gesprochen soll Privatheit insofern die persönliche Entfaltung sicherstellen sowie vor negativen Einflüssen sowie illegitimen Beobachtungen Dritter beschützen. Diese Einflüsse werden insbesondere an überwachend oder „manipulativ“ wirkenden Technologien festgemacht, wobei Schlagworte wie „Gesichtserkennung“, „intelligente Videoüberwachung“, „Big Nudging“, „Micro Targeting“ oder andere verwendet werden. Auch der Umstand der Anwendung computergenerierter probabilistischer Einschätzungen und Prognosen, in der Literatur oft als algorithmic decision making (ADM) bezeichnet, auf einzelne Personen wird als Privatheitsproblem gerahmt. Doch trotz zahlreicher Skandale, wie die Aufdeckung von Überwachungspraktiken der NSA, Datenlecks bei Social-Media-Plattformen oder Versuchen der Wahlmanipulation durch Micro Targeting, ist eine effektive Zurückdrängung der Interessen mächtiger wirtschaftlicher oder staatlicher Akteure bislang kaum gelungen. Dennoch wird in der Privatheitsliteratur entgegen empirisch feststellbarer Überwachungspraktiken und einer anhaltenden Verdrängung von tradierten Privatheitspraktiken die Wichtigkeit des Schutzes individueller Interessen an Autonomie, Selbstentfaltung, körperlicher Integrität, Würde sowie freier Meinungs- und Willensbildung durch das „Schild“ Privatheit betont.
Neuere Theorien verhandeln den Wert des Privaten weniger im „vertikalen“ Spannungsfeld zwischen Systemen (Wirtschaft, Politik) und Lebenswelt, sondern mehr im „horizontalen“ Verhältnis zwischen einzelnen sozialen Kontexten. In diesem Zusammenhang geht es um die Sicherung der Erwartungen, die Personen gegenseitig in Bezug auf das Wissen voneinander haben. Nur dann, wenn die Beteiligten das Bild kontrollieren können, das andere Personen von ihnen haben (sollen), können Privatheitsansprüche gewahrt bleiben. Darüber hinaus fixiert der Wert des Privaten Normen und Regeln, die einen angepassten, kontextbezogenen Austausch von persönlichen Informationen zwischen verschiedenen sozialen Feldern sichern sollen. Die Aufhebung informationeller Kontexttreue kann dabei verschiedene Formen annehmen. Zeitliche Kontextverletzungen können dazu führen, dass eventuell vergessene Informationen aus der Vergangenheit in der Gegenwart wieder aufgegriffen werden. Kulturelle Kontextverletzungen hingegen definieren sich darüber, dass Informationen zwischen verschiedenen, miteinander inkompatiblen Bedeutungsräumen ausgetauscht werden. Und publikumsbezogene Kontextverletzungen können auslösen, dass Informationen so verbreitet werden, dass sie verschiedenen, eventuell unerwünschten Kreisen gegenüber verfügbar sind. Gerade letztere Form der Kontextverletzung wird im Zusammenhang mit digitalen Informations- und Kommunikationssystemen mit konstanter Regelmäßigkeit angeprangert, wobei insbesondere Transparenzasymmetrien kritisiert werden, welche sich zwischen staatlichen beziehungsweise wirtschaftlichen Institutionen und Bürger:innen beziehungsweise Kund:innen aufspannen. Problematisch sind solche Transparenzasymmetrien, da mit ihnen ein Macht- respektive Machtmissbrauchspotenzial einhergeht.
Verkompliziert wird das Einhalten von Normen des angemessenen Informationsflusses durch sich weiterentwickelnde Methoden der Datenverarbeitung. Künstliche Intelligenz ermöglicht nicht nur das automatisierte Treffen algorithmengestützter Entscheidungen, welche zur Steuerung und Organisation sozialer Systeme verwendet werden, sondern desgleichen die Extraktion „emergenter“, privater Informationen aus „unverdächtigen“ Datensätzen. In diesem Zusammenhang werden etwa aus Surfgewohnheiten einzelner Individuen auf probabilistische Weise private Informationen gewonnen, welche in der Folge etwa zu Zwecken der Anpassung von personalisierter Werbung oder Newsfeeds eingesetzt werden. Alle diese Technologien können zu einer Gefahr für demokratische Werte werden. So werden beispielsweise Filterblasen für die übermäßige Verbreitung von Falschmeldungen sowie Radikalisierungstendenzen im öffentlichen Diskurs verantwortlich gemacht. Illegitime Informationsbestände, die jedoch eine besonders hohe Popularität unter den Nutzern sozialer Netzwerke genießen, verbreiten sich stärker als legitime Informationsbestände. Nicht zuletzt die anlasslose Massenüberwachung stützt sich auf Verfahren der künstlichen Intelligenz und ist ihrerseits mit demokratiegefährdenden Tendenzen verbunden. Es wird davon ausgegangen, dass staatlich eingesetzte Überwachungstechnologien sich über chilling effects negativ auf das politische Engagement von Bürger:innen auswirken. Wenngleich in der Gesamtschau die kausale Verknüpfung zwischen privatheitsverletzenden digitalen Technologien sowie der Entwicklung politischer Ordnungsformen kaum bis gar nicht valide empirisch untersucht werden kann, so kommen Studien doch zu dem Schluss, dass zumindest der umgekehrte Effekt, also eine Förderung demokratischer Werte und Institutionen nicht gegeben ist.
Letztlich verbirgt sich hinter der Betonung der Bedeutung von Privatheit für demokratisch verfasste Gesellschaften die grundlegende Idee, dass Menschen sich zu mündigen, aufgeklärten, freien Individuen entfalten können sollen, um ihr politisches Agieren gegenüber der Gemeinschaft legitimieren zu können. Unter Druck gesetzte, fehlinformierte oder durch Dritte manipulierte Personen können zwar beispielsweise ihr Wahlrecht ausüben oder ihre Meinung öffentlich äußern, allerdings nicht unbedingt im Sinne ihres eigenen Wohls oder des Gemeinwohls.
Beispiel Medienmündigkeit: individuelle Selbstbestimmung in der digitalen Welt
Die grundlegende Idee, dass Menschen sich durch den Schutz ihrer Privatheit zu mündigen, aufgeklärten und freien Individuen entfalten können, impliziert, dass sie über die Form und das Maß ihrer Privatheit selbst entscheiden können. Das demokratische Selbstverständnis ist dadurch geprägt, dass Privatheit individuell, wie auch kollektiv eine wählbare Möglichkeit ist. Das heißt, dass Privatheit ein Wert neben anderen Werten ist, für oder auch gegen den sich Individuen entscheiden können. Genau dieser Akt der Entscheidung ist ein Teil von Autonomieansprüchen, die sich im Grundsatz der informationellen Selbstbestimmung artikulieren. Privatheit ist an den Leitwert der Autonomie in Form personaler Selbstbestimmung gekoppelt, die als Grundlage eines gelingenden Lebens des Einzelnen sowie der (auch pluralen) Gesellschaft in freiheitlichen Demokratien gilt.
Damit dies aber möglich wird, bedarf es einer grundlegenden “Mündigkeit” von Bürger:innen, die demokratisches Handeln in Form von politischer Mitbestimmung, gesellschaftlicher Teilhabe und Partizipation im Zuge der Entfaltung der eigenen Persönlichkeit umfasst. Mündigkeit ist in digitalen Gesellschaften immer auch mediale Mündigkeit. Die Frage der Medienmündigkeit gilt dabei im gesamten Lebensverlauf. Gerade für verletzlichere gesellschaftliche Individuen und Gruppen, wie ältere Menschen, Menschen mit Beeinträchtigungen oder Heranwachsende, wird sie wesentlich. Sie bedarf im Sinne sozialer Gerechtigkeit inklusiver Bedingungen – durch geeignete Infrastrukturen, angemessene Anwendungsformen, aber auch Aufklärung und Maßnahmen zur Ermöglichung von Mündigkeit im gesamten Lebensverlauf.
Fragen einer gelingenden Unterstützung von Medienmündigkeit sind insbesondere für Kinder und Jugendliche von hervorgehobener Bedeutung, wenn man bedenkt, dass laut einer UNICEF-Studie ein Drittel der weltweiten Internetnutzer:innen Kinder bis 18 Jahre sind. Die Rede von der “mediatisierten Kindheit” beschreibt nicht nur die Nutzungszahlen, sondern zusätzlich die Omnipräsenz digitaler Medien als einem „Querschnittsthema“ heutiger Kindheit und Jugend. Versteht man Kindheit als besonders vulnerable Entwicklungsphase, so haben Prozesse der Digitalisierung und Medialisierung das Potenzial, die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen maßgeblich zu verändern und ihr Erwachsenenleben elementar zu prägen. Barbies mit Überwachungsfunktion, Video-Plattformen wie YouTube oder TikTok, vernetzte Computerspiele, Lern-Apps und Messenger-Dienste wie WhatsApp stehen exemplarisch für Dienste und Medientechniken, die bereits für Kinder eine bedeutende Rolle spielen und ihr Medienhandeln auch in ihrem Alltag prägen. Heranwachsende unterscheiden dabei nicht mehr, wie frühere Generationen, zwischen „real“ und „virtuell“ oder zwischen „analog“ und „digital“. Die Kanäle oder Endgeräte für Kommunikation und sozialen Austausch sind für sie zweitrangig, ohne dass sie gleichzeitig genügend Erfahrungen und Informationen, oder teilweise auch kognitive Fähigkeiten oder gar Kompetenzen haben, die ihnen selbstbestimmte, mündige Entscheidungen in medialen Kontexten ermöglichen.
Bei Kindern geht es um erhöhte Schutzansprüche, die an Fürsorgetragende wie Eltern gestellt werden. Diese sollen eine Zukunft von Kindern überhaupt erst ermöglichen. Je jünger die Kinder sind, desto bedeutsamer ist dieser Schutzbedarf daher auch aufgrund der bestehenden Abhängigkeitsverhältnisse. Dass Kinder noch in Entwicklungsprozessen stecken, in denen sich biologische, psychische und soziale Kompetenzen und Fähigkeiten erst noch ausbilden, ist der Hauptbezugspunkt der Schutzargumentation und Fürsorgepflicht. Sowohl im Grundgesetz (Art. 6 GG) als auch in der UN-Kinderrechtskonvention (Art. 5 UN-KRK) wird elterlichen Rechten und Pflichten gegenüber ihren Kindern Rechnung getragen. Denn gerade kleinere Kinder können die Folgen ihres Handelns nicht vergleichbar abschätzen wie Erwachsene. Was Kinder von Erwachsenen unterscheidet, sind sich sukzessive entwickelnde kognitive Fähigkeiten, weniger gelebte Erfahrung und Zugang zu Informationen sowie das erst allmähliche Abwägen möglicher Folgen sowie Nebenfolgen des eigenen Handelns.
Soll Medienmündigkeit ausgesprochenes Ziel heutigen Heranwachsens sein, damit personale Selbstbestimmung in digitalen Umwelten auch mit Blick auf Privatheit möglich wird, dann greift ein alleiniger Fokus auf Schutz zu kurz. Kinder als handelnde Subjekte zu verstehen ermöglicht ein kinderrechtlicher Ansatz, der auf das Zusammenspiel von Partizipation, Befähigung und Schutz fokussiert. Das zentrale Thema einer medienethischen Auseinandersetzung zur Kindheit bleibt dabei die Frage, wieviel paternalistischer Eingriff im Zuge des Schutz- und Fürsorgeprinzips in die Autonomie- und Freiheitsrechte des Kindes trotz des Gleichheitsgrundsatzes rechtfertigbar ist.
Kinderrechte als „Menschenrechte für Kinder“ haben dabei die Entwicklungsdimension von Kindheit, d. h. die evolving capacities, von Kindern zu berücksichtigen. Die Wichtigkeit von Befähigung neben Schutz lässt sich an den rechtlichen Vorgaben zur Privatsphäre von Kindern im Kontext des Digitalen veranschaulichen. So verbrieft Artikel 16 der UN-Kinderrechtskonvention, dass „kein Kind (…) willkürlichen oder rechtswidrigen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung oder seinen Schriftverkehr oder rechtswidrigen Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden (darf)“ und „Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe oder Beeinträchtigungen“ hat. Es geht also um die Möglichkeit zu entscheiden, welche Informationen in bestimmten Kontexten oder mit bestimmten Personen geteilt werden sollen.
Mit Blick auf Kindheit als Entwicklungsphase geht es folglich auch um die Ermöglichung von Privatsphäre als einem grundlegenden demokratischen Freiheitsrecht. Privatheit hat unterschiedliche Bezugsdimensionen (von körperlicher Integrität, mentalen Vorgängen, über persönliche Entscheidungen, lokale Räume, den Schutz privater Daten bis hin zu institutionellen Bereichen), die sich analytisch unterscheiden lassen, die aber – gerade bei Kindern – in der Praxis zutiefst verwoben sind, sie tritt „relational innerhalb sozialer Konstellationen“ auf. Die Bildung Heranwachsender hin zur gesellschaftlichen Teilhabe und personalen Selbstbestimmung braucht damit gleichermaßen die konkrete Erfahrung von Privatsphäre in der konkreten Lebenswelt sowie ihre Ermöglichung (Erziehung zur Mündigkeit). Deutlich wird hier die Wichtigkeit von Befähigung im erzieherischen und sozialen Kontext.
Kinder haben dabei ein Recht auf eine offene Zukunft und bedürfen besonderer Schutzräume zur freien Entwicklung ihrer Persönlichkeit. Digitale Medien können hierbei neuartige Formen von Teilhabe und Partizipation sowie Bildung und Unterhaltung ermöglichen, sie können aber auch kindliche Schutzrechte einschränken – ein Spannungsfeld, das sich in der Aushandlung von Autonomie versus Fürsorge immer ergeben kann und was besondere Verantwortlichkeiten bedingt. Dies umfasst eine Verzahnung von Maßnahmen verschiedener Verantwortungsträger:innen, die von der Medienregulierung und dem Jugendmedienschutz, über Elternbildung, bis hin zu medialen Anbietern und Bildungseinrichtungen für Kinder und die Zivilgesellschaft reicht.
5 Zur Ambivalenz des Privaten für die Demokratie
Kritisch gegenüber der liberalen Tradition von Privatheit, wie sie hier in Bezug auf Gesellschaft und Individuum geschildert wurde, kann angemerkt werden, dass Privatheit letztlich keinen politischen Wert an sich darstellt, sondern vielmehr ein Sammelbegriff ist für Werte und Maßnahmen, welche demokratische Teilhabe und politische Entscheidungsfindungsprozesse sicherstellen und optimieren sollen. Privatheit wäre demnach ein instrumenteller Wert, der zur Realisierung anderer Werte dient. Reduktionistisch argumentierende Ansätze gehen davon aus, dass Privatheitskonzepte letztlich Konglomerate anderer grundlegender Rechte, wie etwa des Rechts auf Leben, Freiheit und Eigentum, sind. Diese Ansätze gehen davon aus, dass kein eigenständiges Recht auf Privatheit ausgemacht werden kann. Kommunitaristische Ansätze kritisieren darüber hinaus, dass Privatheitskonzepte dem Individuum das Primat vor der Gemeinschaft einräumen und damit einen Verfall “öffentlicher” Werte wie Sicherheit, Wohlfahrt, Verantwortungsbewusstsein etc. begünstigen. Seitens feministischer Positionen wird ferner kritisiert, dass die Privatsphäre der Verschleierung (häuslicher) Gewalt dienen kann und das hierarchische Herrschaftsverhältnis zwischen Männern und Frauen verhärtet. Ebenfalls darf in diesem Zusammenhang nicht in Vergessenheit geraten, dass die Berufung auf Privatheit auch für politisch schädliche Bemäntelungseffekte stehen kann. So kann beispielsweise die Ausübung legitimer journalistischer Recherchearbeit unter Verweis auf das Recht auf Privatheit eingeschränkt werden, sodass wichtige Informationssaufgaben der Presse gegenüber der Öffentlichkeit behindert werden.
Der Ruf nach Privatheit ist demnach möglicherweise in bestimmten Fällen nichts anderes als ein Ruf danach, bestimmte Normverletzungen weiterhin ausführen zu können. Zwischen der sozial akzeptierten Abwehr staatlicher oder unternehmerischer Macht sowie der nicht sozial akzeptierten Begehung und Verschleierung illegitimer Normverletzungen und Straftaten liegt zwar ein fundamentaler Unterschied, dennoch kommt es in beiden vor, dass Privatheit und Datenschutz als Argumente ins Feld geführt werden. Desgleichen werden möglicherweise dieselben technischen Anwendungen oder privacy enhancing tools verwendet. Wenn beispielsweise gezeigt werden kann, dass sich große Teile des Datenverkehrs im Rahmen von Hidden Services im Tor-Netzwerk auf kinderpornografische Inhalte beziehen, dann erscheint ein solches Werkzeug, welches gemeinhin als wichtiges Hilfsmittel von politischen Aktivistinnen und Aktivisten zur Abwehr von staatlicher Repression angesehen wird, in einer ambivalenten Perspektive. Manchmal kann erst die Aufhebung der schützenden, bemäntelnden Wirkung des Privaten verdrängte, tabuisierte, diskriminierte oder normverletzende Sachverhalte in die Öffentlichkeit, in gesellschaftliche Diskussionsforen und politische Aushandlungsprozesse bringen.
Eine solche Verdeutlichung der Ambivalenz des Privaten darf jedoch nicht dazu führen, dass zwischen verschiedenen Werten eine Art Nullsummenspiel eröffnet wird und ein Wert gegen einen anderen ausgespielt wird. Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Sicherheit, Privatheit, das Recht auf den freien Zugang zu Informationen und andere Werte können zwar in einem Spannungsfeld zueinander stehen, die Realisierung von Wert A muss aber nicht zwingend die Verdrängung von Wert B bedeuten. Im Gegenteil entspricht die Aushandlung der Gewichtung unterschiedlicher Werte oder Rechtsgüter dem Wesen der Demokratie und spiegelt sich mit dem Prinzip der praktischen Konkordanz auch im Recht wider.
6 Zusammenfassung und Ausblick
Die Privatheitsforschung ist mittlerweile eine gut etablierte Disziplin an der Schnittstelle zwischen Technikanalyse, gesellschaftlichen, politischen, psychologischen, ökonomischen und kulturellen Perspektiven. Damit ist Privatheitsforschung ein interdisziplinäres Feld. Ethische Reflexionen sind für dieses Feld essenziell.
Ethik ist die kritische Reflexion und Analyse herrschender gelebter Moral, nicht nur im deskriptiven, sondern auch im präskriptiven Sinn. Dieses Verständnis von Ethik, das bis ins griechische 8. Jahrhundert v. Chr. zurück reicht, beruht auf der Voraussetzung, dass menschliches Leben nicht allein durch Gewohnheiten und Traditionen, aber auch nicht allein durch rechtliche Regelungen gelenkt werden kann. Aristoteles, der „Ethik“ als philosophische Disziplin einführt, geht davon aus, dass jede menschliche Praxis, auch Gewohnheiten und Traditionen, einer theoretisch fundierten Reflexion zugänglich sind. Gerade deshalb ist es ethisch geboten, die gelebte individuelle Handlungspraxis nicht durch Verhaltensanalysen zum bestimmenden Maßstab für politische bzw. gesellschaftliche Entscheidungen zu machen. Der Einbezug von datengestützten Verhaltensanalysen kann nur dann demokratisch legitim sein, wenn sie Gegenstand eines ethischen, politischen und gesellschaftlichen Verständigungsprozesses bleiben und sich nicht als Steuerungsmittel verselbstständigen.
Wenn Ethik nicht deskriptiv, sondern präskriptiv arbeitet, stellt sie eine doppelte Frage: zum einen die Frage nach richtigem Handeln in Konfliktsituationen, und zum anderen die Frage nach dem „guten Leben“ die häufig heißt: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Ethische Analysen sind für das Feld der Privatheit unerlässlich, weil sie die Werthaltigkeit des Konzepts Privatheit diskutieren und die Rolle von Privatheit für eine gute und lebenswerte Gesellschaft reflektieren. Aus dieser Perspektive ist Privatheit ein instrumenteller Wert, der es ermöglicht, dass andere Werte verwirklicht werden können:
Privatheit ist ein individueller Wert, der als Schutz grundlegender Werte wie Autonomie, körperliche Integrität und Würde fungiert, genauso auch Formen des Widerstands gegen repressive Öffentlichkeiten ermöglicht.
Privatheit ist ein Strukturmoment einer Gesellschaft, indem durch Privatheit in unterschiedlichen (räumlichen, zeitlichen, kulturellen Kontexten) ein je angemessener Informationsfluss etabliert und vorausgesetzt werden kann.
Privatheit ist – auf einer Metaebene – auch ein öffentlicher und kollektiver Wert, weil er konstitutiv ist für Praktiken demokratischer Teilhabe und Kritik und damit grundlegend ist für eine demokratische und gerechte Gesellschaft.
In all diesen Bereichen ist Privatheit grundsätzlich in Machtstrukturen eingebunden und bleibt darum ambivalent. Privatheit als individueller Wert ist Voraussetzung für die Entfaltung von Mündigkeit, kann aber genauso der Verschleierung von Hierarchien und Gewalt in „privaten“ Bereichen dienen. Privatheit als Strukturmoment einer Gesellschaft, das ungleiche Kontexte unterschiedlich behandelt, schützt Einzelne und Gruppen, die sich in vielfältigen Öffentlichkeiten bewegen; sie kann aber zugleich dort, wo Kontexte zunehmend vielfältig, dynamisch und überlappend werden, falsche Sicherheiten produzieren. Privatheit als kollektiver Wert, der demokratische Teilhabe ermöglicht, kann gleichzeitig das Verdrängte, Tabuisierte, Diskriminierte in die Privatheit abdrängen, genau wie das moralisch Falsche oder Illegale durch den Rückzug ins Private dulden. Aufgrund der hohen Innovationsdichte in diesem Bereich und der raschen Fortschritte hinsichtlich der Leistungsfähigkeit informationstechnischer Systeme bedarf es einer kontinuierlichen Diskussion und Anpassung von Privatheitskonzepten und -prinzipien, um unter veränderten Bedingungen ihren Wert für die Demokratie zu sichern.
Wichtig ist an dieser Stelle, Privatheit nicht als ein statisches, sondern als ein dynamisches Konzept zu sehen, welches im Verhältnis zu digitalen Technologien aller Art eine permanente Neuaushandlung erfährt. Dabei bleibt die Frage nach Gerechtigkeit eine unterliegende Konstante. Sie fragt danach, auf welchen Ebenen der Mangel an Privatheit oder der Missbrauch von Privatheit Ungerechtigkeiten hervorbringt. Gerade dort, wo Privatheit kontinuierlich gefährdet ist, kann sie nur gestärkt werden, wenn sie als Privatheit in und für gerechte Kontexte und Ziele gedacht wird. Dafür ist es notwendig, dass Nutzer:innen in der Lage sind, ihr Handeln online zu beurteilen und die beabsichtigten Folgen mit unbeabsichtigten Nebenwirkungen abzuwägen. Es muss trotz immer komplexer werdender technischer Systeme stets ein Ziel sein, (lebenslang) Kompetenzen zu erwerben, anhand derer es möglich wird, unbeabsichtigte Handlungs(neben)folgen bestmöglich zu antizipieren. Solche Fragen der Medienmündigkeit oder Data Literacy können jedoch schnell zu Überforderungen privater Anwender:innen, aber auch von Unternehmen oder der öffentlichen Hand führen, wenn eine demokratiekonforme Techniknutzung nicht durch entsprechende Infrastrukturen gerahmt und normativ geprägt wird.
CC BY
Heesen, J., Ammicht Quinn, R., Baur, A., Hagendorff, T., Stapf, I. (2022). Privatheit, Ethik und demokratische Selbstregulierung in einer digitalen Gesellschaft. In: Roßnagel, A., Friedewald, M. (eds) Die Zukunft von Privatheit und Selbstbestimmung. DuD-Fachbeiträge. Springer Vieweg, Wiesbaden.
https://doi.org/10.1007/978-3-658-35263-9_5
Zur einfacheren Lesbarkeit wurden die Quellenverweise und Fussnoten entfernt.