1 Einleitung
Mittlerweile gibt es eine breite Fülle von Sensoren und Aktoren im persönlichen Lebensumfeld. Diese sind sowohl in tragbare als auch raumbezogene (ambiente) Systeme integriert und ermöglichen neue gesundheitsbezogene Dienste. Derartige technische Systeme arbeiten häufig als eingebettete Systeme kontinuierlich automatisiert und ohne menschliche Interaktion im Hintergrund – beispielsweise zur Vermessung körperlicher Aktivität oder zur Erkennung von medizinischen Notfallsituationen. Gleichzeitig gestatten neuartige Dialogschnittstellen zunehmend auch technisch weniger erfahrenen Anwenderinnen und Anwendern geführte Interaktionen mit technischen Systemen (Chatbot-Ansatz) und ermöglichen ebenfalls neue Dienste, z. B. die Unterstützung kognitiver Leistungen durch kontextabhängige Präsentation von Informationen oder die vorklinische Diagnoseunterstützung bei Patientinnen und Patienten. Hierbei kommen vermehrt Methoden der Künstlichen Intelligenz zum Einsatz, sodass zunehmend von intelligenten Maschinen gesprochen wird. Die beschriebenen intelligenten Maschinen stellen neue Akteure auf dem Gebiet der Gesundheitsdienstleistungen und der Versorgungsmedizin dar. Die Zusammenarbeit dieser neuen Akteure miteinander und mit den bereits in die multidisziplinäre Arbeit im Gesundheitswesen Eingebundenen führt zu Veränderungen. Die Medizin und die Gesundheitsversorgung unterlagen und unterliegen, nicht zuletzt durch den Einfluss von neuer Technik, einer beständigen Veränderung. So haben Technologien wie das Mikroskop, das Elektrokardiogramm und Untersuchungen mit Röntgenstrahlen und Ultraschall das Spektrum der medizinischen Diagnostik erweitert. Die automatisierte Analyse von EKG-Signalen ist längst Routine und entbindet den Arzt von aufwendigen Routinetätigkeiten. Aktuell setzt die zunehmend routinemäßige Verwendung von Genom- und Proteomanalysen diese Entwicklung fort. Neben den genannten Werkzeugen zur Unterstützung der Diagnostik existieren therapeutische Werkzeuge, wie z. B. Herzschrittmacher, Hörgeräte, Cochlea-Implantate und Operationsroboter, die das Spektrum des Machbaren in der Medizin deutlich erweitern und, im Falle der Implantate, zu einem Teil des Körpers werden. Die neuen Werkzeuge kompensieren funktionelle Defizite (z. B. Herzschrittmacher) und erweitern die sensorischen (z. B. Röntgendiagnostik), kognitiven (z. B. EKG-Analyse) und motorischen (z. B. Operationsrobotik) Fähigkeiten. Wie die kontinuierlich zunehmenden Möglichkeiten des Zusammenwirkens immer ubiquitärer existierender und zunehmend allwissender und intelligenter erscheinenden und teilweise autonom agierender Werkzeuge die Gesundheitsversorgung und Medizin in der Gegenwart verändern und in der Zukunft tief greifend beeinflussen werden, ist kaum absehbar. Zur Erörterung dieser Thematik stellt dieser Beitrag zunächst mehrere aktuelle Beispiele aus den Bereichen Rehabilitation, Pflege und klinische Medizin vor und zeigt jeweils Möglichkeiten und Herausforderungen des Zusammenwirkens solcher Assistenzsysteme im Kontext der sozio-technischen Systeme auf, in die sie eingebettet sind. Der Beitrag gibt zunächst einen Überblick über die mit Sensoren messbaren, gesundheitsrelevanten Parameter sowie gängige Anwendungsszenarien im Bereich der nicht-klinischen und klinischen Versorgung. Beginnend mit der Anwendung in der Diagnostik, über die therapeutische und kombinierte Nutzung hin zu wissensbasierten Systemen spannt sich der Bogen der Szenarien. An konkreten Beispielen zeigt der Beitrag die neuen Formen des Zusammenwirkens von Menschen mit den neuen Technologien sowie daraus resultierende Veränderungen auf. Der Beitrag schließt mit einer zusammenfassenden Diskussion dieser Aspekte und gibt einen Ausblick auf entstehende Möglichkeiten und Risiken des Zusammenwirkens künstlicher und menschlicher Intelligenz in der Medizin.
2 Körpernahe und raumbezogene Sensoren
Innerhalb der letzten Dekade ist der Absatz tragbarer Geräte (Wearables) stark angestiegen (Schätzung: 2 Mio. in 2018), und insbesondere innerhalb der letzten fünf Jahre kommen immer mehr günstige Geräte (Consumer-Markt) auf den Markt, die nicht nur einfache Aktivitätsmessungen (z. B. Schrittzählungen) durchführen können, sondern zunehmend auch medizinische Parameter wie z. B. die Herzfrequenz dauerhaft und ohne zusätzliche Elektrodengurte erfassen können. Wenig untersucht ist bisher die Nachhaltigkeit der Nutzung solcher Geräte, die zurzeit häufig im Wellnessbereich eingesetzt werden. Hermsen et al. (2017) berichten von einer Studie mit 711 Teilnehmenden, die mit Aktivitätstrackern der Marke FitBit ausgestattet wurden (Hermsen et al. 2017). Nach 320 Tagen nutzten nur noch 16 % der Teilnehmenden das tragbare Gerät. Häufig lassen sich solche tragbaren Systeme an Smartphones anschließen, so dass mit diesen oder nach der Übertragung der Daten auf Server auch große Datenmengen mit komplexen Algorithmen schnell zu verarbeiten sind. Moderne Smartphones sind ubiquitär verbreitet und verfügen in der Regel über mehr als 20 bereits integrierte Sensoren zur Positionsbestimmung, Bewegungserfassung, Bilderfassung usw. Gleichzeitig sind Speicherkapazität und Rechenleistung so hoch, dass es praktisch keine Einschränkungen in der Nutzbarkeit für die Auswertung von Daten gibt. Die mobile Internetnutzung lag 2018 in Deutschland bei 68 % und nimmt stetig zu. Im Jahr 2018 waren in nur einem App-Store bereits mehr als 100.000 Apps in den Bereichen Gesundheit und Wellness verfügbar. Sensorsysteme lassen sich grob anhand ihrer Mobilität unterscheiden in mobile Systeme und raumbezogene, stationäre (ambiente) Systeme. Die mobilen Sensoren gliedern sich weiter in implantierte und nicht implantierte Systeme. Letztere werden weiter unterteilt in Sensoren, die direkten Kontakt zum Körper (primär der Haut) benötigen, und körpernah, z. B. in einer Tasche getragene (z. B. Smartphones). Mittels integrierter oder an tragbare Geräte angeschlossener Elektroden lassen sich Größen wie elektrische Signale des Herzens (EKG) oder der Hautleitwert erfassen. Weiterhin können die Temperatur, die Wärmekonvektion, die Körperwandbewegungen (Ballisto-/ Seismokardiografie), akustische Signale und auch chemische/biochemische Größen erfasst werden (Beispiel: kontinuierliche Blutzuckermessung mit einem semi-invasiven Sensorsystem). Im weitesten Sinne gehören zu den mobilen Sensorgeräten auch die zunehmend verbreiteten Geräte der professionellen Labordiagnostik (mobile point-of-care Messgeräte und Kits), die von Laborparametern (z. B. Hämoglobin, Entzündungsparameter, Leberwerte, Elektrolyte, Nierenfunktionswerte, etc.) bis hin zu genetischen Tests vielfältig eingesetzt werden können. Raumbezogene Sensoren erlauben vor allem die Erfassung von Raumnutzung und Bewegung von Personen innerhalb von einzelnen Räumen, Wohnungen, Gebäuden und Städten, aber auch Fahrzeugen. Zudem können vernetzte raumbezogene Sensoren vielfältige gesundheitsrelevante Parameter erfassen, wie z. B. das EKG über in Sitzgelegenheiten integrierte Sensorik oder die Herzfrequenz über optische Sensoren. Im Folgenden zeigen wir mehrere Anwendungsbeispiele auf, wie tragbare und raumbezogene Sensoren gesundheitsrelevante Größen erfassen und durch intelligente Verarbeitung der Daten zur Lösung gesundheitlicher bzw. medizinischer Probleme beitragen können.
2.1 Anwendungsbeispiel: Bewegungserfassung in der medizinischen Forschung
Eines der am längsten etablierten Anwendungsfelder von Sensoren im Bereich der medizinischen Forschung ist die objektive Erfassung von Körperbewegungen. Dies reicht von einfachen tragbaren Schrittzählern, welche nur aggregierte Daten liefern können, über multisensorische tragbare Geräte, welche detaillierte Gang- und Bewegungsanalysen erlauben, bis hin zu stationären Multikamerasystemen in Ganglaboren. So breit wie die technischen Ansätze sind auch die untersuchten Fragestellungen. Mit den weit verbreiteten, mittlerweile auch in Smart Watches und Phones integrierten Beschleunigungssensoren lassen sich Schrittzahlen erfassen und der aktive Energieverbrauch der untersuchten Person schätzen. Durch den Einsatz mehrerer, synchronisierter Sensorgeräte mit Gyroskopen zur Erfassung der Winkelbeschleunigung ist die Vermessung von Gelenkbewegungen unter Alltagsbedingungen, z. B. bei der Arbeit oder beim Sport, möglich. In der Studie Partial Knee Clinics wiesen Calliess et al. mit einem Multisensoransatz nach, dass Unterschiede im Bewegungsablauf bei Patienten mit unterschiedlichen Knieendoprothesen vor allem beim Treppabsteigen auftreten. Außerdem ließen sich Ermüdungseffekte messen. Solche Messungen sind unter stationären Laborbedingungen nicht durchführbar. Ein wesentlicher Vorteil sensorgestützter Bewegungsmessungen liegt in deren Objektivität im Gegensatz zu der weit verbreiteten Methode der Befragung (Recall-Fragebögen) zur individuellen Bewegungsaktivität. Die eigene Aktivität wird häufig überschätzt. Aus diesem Grund setzen epidemiologische Studien schon seit geraumer Zeit Sensorgeräte ein, so z. B. bereits im National Health and Nutrition Examination Survey 2005/2006 und der UK Biobank Studie mit 100.000 ProbandInnen. Die Verfügbarkeit solch umfangreicher Daten zur Alltagsaktivität lassen nun Untersuchungen zu Assoziationen mit weiteren, z. B. genetischen Daten zu. Eigene Untersuchungen haben gezeigt, dass sich unter Verwendung eines Clusterverfahrens mit ausschließlich sensorisch erfassten Bewegungsdaten Bewegungstypen identifizieren lassen, die signifikante Unterschiede in metabolischen Parametern bzw. Risikofaktoren bezgl. Sturzgefährdung aufweisen. Die bisherigen Beispiele zeigen, wie technische diagnostische Systeme in den Lebensalltag vordringen und auch gerade deshalb neuartige und diagnostisch relevante Informationen liefern können. Diagnostik bleibt nicht begrenzt auf Institutionen wie Krankenhäuser und Arztpraxen. Bürgerinnen und Bürger nutzen Systeme aus dem erweiterten Gesundheitsmarkt zunächst für Komfortfunktionen oder zur Selbstvermessung mit dem Ziel der Selbstverbesserung im Bereich der körperlichen Fitness. Die automatisierten Auswertungen nutzen sie zur Steuerung ihres Trainings oder zur Veränderung ihrer Lebensweise hin zu mehr Aktivität. Die Systeme unterstützen dies mit entsprechender Motivation unter anderem durch spielerische Elemente, wie das Erreichen von gesteckten Zielen oder den Vergleich mit anderen Personen über soziale Netzwerke. Die technischen Systeme erlangen in dieser Anwendung einen Status, der mit dem eines persönlichen Trainers und Begleiters vergleichbar ist. Zunehmend intelligentere Algorithmen erlauben sehr individuelle Steuerung des Verhaltens von Personen. Der Wert der gesammelten Informationen für die medizinische Versorgung ist noch nicht konkret abschätzbar. Interessant und wichtig wäre eine automatisierte frühzeitige Erkennung von gesundheitsrelevanten Situationen, die nur mit der Hilfe medizinischer ExpertInnen zu bewältigen sind. Ein Austausch der vorliegenden Daten mit diesen sollte dann einfach möglich sein und den ExpertInnen sollten sich die Daten, die für die vorliegende Situation relevant erscheinen, in einer einfach zu interpretierenden Form präsentieren. Durch die anlassbezogene individuelle Konfiguration vorhandener technischer Geräte und die Ergänzung um weitere diagnostisch notwendige Komponenten entsteht eine diagnostisch wirksame Lebensumgebung. Das Zusammenwirken der technischen Systeme mit ihren NutzerInnen und medizinischen ExpertInnen führt zu völlig neuartigen Formen der Versorgung. Erst wenn die von den PatientInnen gesammelten Daten mit ihren gesundheitlichen Informationen und Daten von weiteren diagnostischen Tests zusammengeführt und mit der Unterstützung von Expertensystemen den ExpertInnen zur Auswertung und Bewertung vorliegen, lässt sich die technische Lebensumgebung ideal für die Erfassung der Gesundheit instrumentalisieren oder gestalten.
2.2 Anwendungsbeispiel: TeleReha
Neben der bisher aufgezeigten Verwendung in der Diagnostik lassen die neuen technischen Systeme auch einen Einsatz in der Therapie zu. Ein Anwendungsfeld ist die motorische Rehabilitation von Patienten mit muskulo-skelettalen Erkrankungen. Die Möglichkeiten der technischen Unterstützung reichen in diesem Bereich von der für Hilfestellung PatientInnen und TherapeutInnen z. B. bei der Auswahl von Eigenübungen durch Kataloge, die intelligente Suchen gestatten, über die Motivation und Anleitung der PatientInnen bei der Durchführung der verordneten Übungen bis hin zu Robotern, die mobilitätseingeschränkte PatientInnen über präzise Trainingsbelastungen bei der Wiedererlernung von Bewegungsabläufen helfen. Das Projekt AGT-Reha (AGT = Assistierende Gesundheits-Technologien) hat in den letzten Jahren gezeigt, dass über die Ausstattung von PatientInnen in ihrer Häuslichkeit mit entsprechenden Hard-Software-Systemen eine bessere Kontrolle der selbstständigen Übungsausführung möglich ist. Die TeilnehmerInnen in den freiwilligen Studien verwenden ein Computersystem mit einer Tiefenkamera, das die Durchführung von physiotherapeutischen Eigenübungen erkennen kann. Das technisch angeleitete Training sowie die automatisierte Bewertung und Rückmeldung von Quantität und Qualität der Übungsausführung durch den Computer gestattet es den Trainierenden, alle die für sie therapeutisch wirksamen Übungen genauer durchzuführen und so Fehlbelastungen zu vermeiden. Die Trainierenden berichten, dass das geführte Training mit dem System hilfreich sei, keine Übungen zu vergessen und die Übungen korrekt und vollständig auszuführen. Die Rückmeldung der Trainingserfolge an die betreuenden TherapeutInnen empfinden die TeilnehmerInnen als eine zusätzliche Motivation, und sie gibt ihnen das sichere Gefühl, während ihrer heimischen Übungen betreut zu sein. Die Nachsorge mit AGT-Reha ist zeitlich flexibel und in den eigenen Räumlichkeiten durchzuführen, wodurch AGT-Reha einigen PatientInnen die wichtige, regelmäßige poststationäre Rehabilitation erst ermöglicht. Die therapeutischen Systeme, für die AGT-Reha nur ein Beispiel ist, erlauben neben der oben beschriebenen neuartigen Diagnostik neue Formen der Versorgung. Durch ihr Zusammenwirken von PatientInnen und TherapeutInnen erweitern und ergänzen sie das ansonsten unmittelbare Verhältnis der menschlichen Akteure. Sie erweitern die Fürsorge der Therapeuten als deren teletherapeutische Augen und Arme und geben auch dadurch den Trainierenden ein gutes Gefühl des Umsorgtseins. Die weitgehend automatisierte Kontrolle der Qualität und Quantität des Trainings soll zu regelmäßigeren und korrekteren Trainings führen, was die Wirksamkeit erhöhen sollte. Gleichzeitig ermöglichen sie TherapeutInnen durch die Asynchronität, neue, flexiblere Arbeitszeitmodelle. Die automatisierte Kontrolle des Trainings entbindet die TherapeutInnen von Routineanteilen ihrer Arbeit und ermöglicht ihnen eine Konzentration auf die Aspekte, die eine erhöhte Wirksamkeit versprechen. Die gesammelten Informationen über die tatsächliche Durchführung der Trainings gestatten neue, objektivere Einsichten in die Wirklichkeit der selbstständigen häuslichen Therapie. Ein Risiko der Verwendung ist das tiefe Eindringen der Systeme in die Privatsphäre der NutzerInnen. AGT-Reha interpretiert beispielsweise Videoaufnahmen der NutzerInnen in ihrer privaten Wohnumgebung. Zudem sammelt es objektive Informationen über die Adhärenz der NutzerInnen. Auch wenn AGT-Reha die Bilder nicht aufzeichnet und sie somit die Wohnung der NutzerInnen nie verlassen, ist ein Missbrauch derartiger Systeme leicht vorstellbar. Dieser würde das für die Behandlung essenzielle Vertrauensverhältnis zwischen TherapeutIn und PatientIn nachhaltig beeinträchtigen. Ebenfalls ist leicht eine Nutzung der Informationen über Trainingsqualität und -quantität vorstellbar, die den PatientInnen zum Nachteil gereichen könnte. So ließen sich die Verordnung weiterer Therapien oder die Kostenerstattung von den Informationen abhängig machen.
2.3 Anwendungsbeispiel: Kombination von Modalitäten
Während AGT-Reha ein abgegrenztes System ist, das PatientInnen in ihr privates Umfeld bringen, kann die häusliche Umgebung selbst, wie oben angeführt, als diagnostischer und therapeutischer Raum dienen. Sind Wohnungen mit ambienten Sensoren ausgestattet, lassen diese sich mit weiteren Systemen (u. a. Aktoren) kombinieren, um je nach Anwendungsfall z. B. diagnostische Informationen zu erheben, algorithmisch auszuwerten und ggf. auch Entscheidungen zu treffen. Ein Beispiel für die Verwendung verschiedener Modalitäten in realen Lebensumgebungen ist die Erkennung von Sturzereignissen in Wohnungen. In Wohnungen von insgesamt 28 sturzgefährdeten älteren Personen installierte Kamerasysteme und Mikrofone erfassten für jeweils acht Wochen im Rahmen der Arbeiten zum Forschungsverbund Gestaltung altersgerechter Lebenswelten die Aktivitäten der Personen. Gleichzeitig zeichneten tragbare Sensorgeräte die Bewegungen der ProbandInnen auf. Mit spezifisch dafür entwickelten Algorithmen fusionierte ein in der Wohnung installiertes Computersystem die Sensordaten, wertete diese autonom aus und traf die Entscheidung, ob ein Sturzereignis vorliegt oder nicht. Dieses Beispiel zeigt, wie sich die persönliche Lebensumgebung zu einem aktiven Begleiter und Akteur der Gesundheitsversorgung wandelt. Gerade im Bereich der Notfallerkennung bei solchen seltenen, häufig spät erkannten Ereignissen, die schwerwiegende Konsequenzen für die Betroffenen haben können, bietet sich die Nutzung maschineller Intelligenz an. Durch eingebaute Sensorik, Aktorik und eingebettete Systeme entwickelt sich die Wohnung selbst zu einem Akteur im Gesundheitswesen. Sie kann zum Beispiel die Veränderung der Gesundheit ihrer BewohnerInnen erkennen, ihnen geeignete Gegenmaßnahmen vorschlagen, Unterstützungsdienste anbieten und vermitteln, den Besuch einer/s MedizinerIn empfehlen und auf Wunsch die Daten, die zu der Einschätzung führten, zusammenstellen und übermitteln. In einer Notlage kann die intelligente Wohnung diese erkennen, Hilfe herbeirufen und den herbeieilenden Helfenden die Wohnungstür öffnen.
2.4 Anwendungsbeispiel: Einfach zu nutzende wissensbasierte Systeme
Ein weiteres Feld, auf dem technische Entitäten die Schnittstelle zwischen Mensch und Gesundheitswesen verändern, sind dialogbasierte Applikationen, die den AnwenderInnen einen einfachen Zugang zu medizinischem Wissen ermöglichen, das für sie in ihrem aktuellen Kontext relevant ist. Als prominentes Beispiel ist hier die Smartphone-App Ada zu nennen, die ihre NutzerInnen in einem textbasierten Dialog interaktiv zu Symptomen befragt, die Anzahl möglicher Erkrankungen eingrenzt und aus den Antworten die Wahrscheinlichkeiten möglicher Erkrankungen berechnet. Im Hintergrund arbeitet ein von ExpertInnen erstelltes und laufend gepflegtes wissensbasiertes System. Neben dem verfügbaren medizinischen Wissen fließen auch Rückmeldungen der AnwenderInnen hinsichtlich der Korrektheit der Beurteilung mit ein. Ein Zitat aus der Beschreibung der App durch den Hersteller im Internet: „Ada wurde von mehr als 100 Ärzten und Wissenschaftlern entwickelt und kennt bereits über tausend Krankheiten mit mehreren Milliarden Symptomkombinationen – von einer einfachen Erkältung bis hin zu seltenen Erkrankungen.“. Diese Art von Anwendungen, die AnwenderInnen eine Art Selbstbedienung und Selbstversorgung im medizinischen Kontext ermöglichen, stehen für eine neue Form der Gesundheitsversorgung. Schon seit einigen Jahren nimmt der Anteil der Patienten zu, die sich vor einem Arztbesuch im Internet über mögliche Erkrankungen informieren. Im Vergleich zu dieser Form der Vorbereitung auf (oder Entscheidung über) einen Arztbesuch versprechen intelligente Anwendungen wie Ada eine deutlich realistischere Einschätzung des aktuellen Gesundheitszustands und somit eine noch zielgenauere, rechtzeitige Versorgung. Idealerweise entlasten derartige intelligente Systeme MedizinerInnen wie PatientInnen, indem sie unnötige Arztbesuche vermeiden helfen und somit eine effizientere und passgenauere Versorgung der PatientInnen ermöglichen, die des Beistands einer/s MedizinerIn bedürfen. Das wissensbasierte System, auf dem die Applikation beruht, bietet darüber hinaus mit AdaDX eine explizit für medizinische ExpertInnen entwickelte Schnittstelle. Ronicke et al. (2019) berichten über den Einsatz für die Diagnostik von seltenen Erkrankungen, die häufig übersehen und daher häufig erst spät therapiert werden. Die Autoren argumentieren, dass es ca. 7000 seltene Erkrankungen gibt, die auch von ExpertInnen mit allen Symptomkombinationen nur schwer zu erfassen sind. Die Applikation analysiert die Falldaten und bietet den MedizinerInnen eine Diagnoseunterstützung, indem sie zum einen die Passgenauigkeit der Daten auf verschiedene Erkrankungen berechnet, und zum anderen deren Wahrscheinlichkeiten. Die maschinelle Intelligenz bietet hier eine kognitive Unterstützung in einer sehr wissens- und datenintensiven Umgebung. Die Versorgung von PatientInnen findet häufig unter einem enormen Zeit- und Kostendruck statt, der dazu führt, das gerade seltene Erkrankungen zu spät erkannt werden. Die finale Entscheidung über die Diagnose bleibt bei der Ärztin bzw. dem Arzt, vor allem in Bezug auf die therapeutischen Konsequenzen im Einzelfall. Hier agieren Mensch und Maschine synergistisch. Die MedizinerInnen nehmen eine wesentliche vermittelnde Rolle zwischen den PatientInnen auf der einen Seite und den menschlichen wie maschinellen Experten, Entscheidern und Handlungsträgern auf der anderen Seite ein. Im Projekt MoCAB (Mobile Care Backup) übernimmt eine maschinelle Intelligenz in ganz ähnlicher Weise eine beratende und unterstützende Rolle für die Angehörigen von pflegebedürftigen Personen. Hier arbeitet ein Smartphone- basiertes Dialogsystem (Chat-Bot) mit pflegenden Angehörigen, um deren spezifischen Informations- und Unterstützungsbedarf zu erfassen. Ein Algorithmus entscheidet dann darüber, welche spezifischen Informationen Angehörige in einer bestimmten Situation benötigen und stellt ihnen die entsprechenden Wissensmodule bereit. Solche Systeme können dazu beitragen, Wissenslücken zu schließen und Barrieren zwischen ExpertInnen und Laien abzubauen.
3 Zusammenfassung und Ausblick
Mehrere Beispiele aus dem Bereich körpernaher und ambienter medizintechnischer Systeme haben die Möglichkeiten und Herausforderungen des Zusammenwirkens lebender und nicht lebender Entitäten im Bereich der Gesundheitsversorgung und Medizin verdeutlicht. Der Einsatz der technischen Systeme erfolgt zunehmend auch außerhalb des unmittelbaren medizinischen Umfelds und unabhängig von vorhandenen oder vermuteten medizinischen Problemen. Sie dringen damit zunehmend in das private Umfeld von Bürgerinnen und Bürgern vor und ermöglichen neue Formen der Gesundheitsversorgung. Die ermöglichte vergrößerte Fähigkeit zur Selbstvorsorge und Selbstversorgung und die zielgerichtete Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen hat das Potenzial, das Gesundheitswesen in Zukunft effektiver und effizienter zu machen. Patientinnen und Patienten erhalten durch ihr Zusammenwirken mit der Technologie eine größere Verantwortung und eine bessere und informierte Mitbestimmung über ihren Gesundheitszustand.
3.1 Ethische Fragen
Neben den vielversprechenden positiven Möglichkeiten der aufkommenden Technologien entstehen neben den neuen Formen der Gesundheitsversorgung auch ethisch fragwürdige Anreize und Anwendungen der zunächst wertneutralen Technologie. Informationen über den Gesundheitszustand gehören zu den privatesten und damit schützenswertesten Informationen über ein Individuum. Die erfassten Daten über das Verhalten einer Person lassen darüber hinaus tiefe Einblicke in das Privatleben zu. Diese lassen sich im Sinne der PatientInnen zur Verbesserung des Gesundheitszustands nutzen, aber auch missbräuchliche Nutzungen sind vorstellbar. In weniger freien Gesellschaften lassen sich diese Informationen vergleichsweise einfach zur Kontrolle von Bürgerinnen und Bürgern einsetzen. Selbst mit den vorgesehenen Nutzungen der Technologie ergeben sich ethische Fragestellungen hinsichtlich der Einschränkung des technisch Machbaren. Einige der neuen Technologien bieten auch für gesunde Menschen Nutzungsmöglichkeiten. Im Hinblick auf die Selbstverbesserung oder Selbstoptimierung entstehen hier ähnliche Fragestellungen, wie sie im Kontext der Verbesserung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit mit Medikamenten (Doping) existieren. Ein entstehendes Risiko ist, dass die Technologie die Normen, die ein Individuum erfüllen kann, sollte oder müsste verschiebt und damit die gesellschaftliche Erwartung und der Druck auf das Individuum steigt. Diese Normierung steht konträr zur grundsätzlich bewahrenswerten Individualität und Autonomie. Hier ist ein gesellschaftlicher Diskurs über die akzeptablen Grenzen des Machbaren notwendig.
3.2 Veränderung des Zusammenwirkens in der Medizin
Dort wo intelligente Systeme zum Einsatz kommen, werden sie die Rollen der Menschen, die mit ihnen direkt oder indirekt zusammenwirken, verändern. Sie vertiefen und erweitern die objektiven Informationen über die PatientInnen und ermöglichen ihnen durch automatisierte und individualisierte Rückmeldung sowie durch unmittelbaren Dialog ein besseres Verständnis ihrer Gesundheit und machen sie somit zu informierteren Beteiligten im Gesundheitswesen, die Gesundheitsdienstleistungen präziser abrufen können. Für die MedizinerInnen bedeutet dies idealerweise eine Erleichterung ihrer Arbeit. Der Gesundheitszustand der informierten PatientInnen, über die technische Systeme viele Informationen gesammelt, verdichtet und bewertet haben, lässt sich einfacher, zielgerichteter und hoffentlich schneller diagnostizieren. Technische Systeme können die MedizinerInnen wiederum bei dieser Wissensarbeit unterstützen, beispielsweise indem sie kontextbezogen Wissen zur Verfügung stellen und auf das mögliche Vorliegen seltener Erkrankungen hinweisen. Eine weitere Fragestellung, die sich aus der Konstruktion der technischen Systeme und ihrer Entscheidungsfindung ergibt, ist die Frage der Nachvollziehbarkeit dieser Entscheidungen. Die exakte Funktion einiger Systeme, die beispielsweise in der bildbasierten Diagnose von Hautkrebs bessere Ergebnisse als menschliche Experten erzielen, lässt sich kaum nachvollziehen. Die Entscheidungsfindung stellt somit eine Blackbox dar. Hier wird die Frage zu klären sein, ob wir uns damit zufriedengeben, dass die Ergebnisse der Blackbox besser sind, oder ob es sinnvoll ist zu verlangen, dass jede Entscheidung im Detail von einem Menschen verstanden wird. Das sogenannte responsible data science geht in diese Richtung. Andererseits lässt sich argumentieren, dass ExpertInnen für Laien ebenfalls eine Blackbox darstellten und ihm oder ihr ihre Entscheidungsgrundlage oft auch kaum erklären können. Schließlich spielt das Bauchgefühl, das auf langjähriger Erfahrung und kaum explizierbarem Wissen beruht, auch bei Entscheidungen von ExpertInnen eine Rolle. Bei der aktuellen technischen Entwicklung ist absehbar, dass in bestimmten Bereichen der Medizin computerbasierte intelligente Systeme eine Diagnose zuverlässiger stellen als die Mehrzahl der MedizinerInnen. In dieser Situation ist die Frage zu stellen, ob es nicht unmoralisch ist, wenn diese MedizinerInnen ohne technische Unterstützung eine Diagnose stellen.
Michael Marschollek, Klaus-Hendrik Wolf; Zusammenwirken von natürlicher und künstlicher Intelligenz; Springer 2021
Zur einfacheren Lesbarkeit wurden die meisten Quellenverweise entfernt.
https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-658-30882-7_7