Disruptive Demokratie: Blockupy in Frankfurt
Frankfurt liegt in Europa, aber Europa liegt auch in Frankfurt. Um diese paradoxe topologische Konstellation zu verstehen, braucht es keine elaborierte mathematische Theorie, sondern lediglich einen kleinen Ausflug in die Geschichte der Europäischen Zentralbank (EZB). Seit ihrer Gründung im Jahr 1998 hat die EZB ihren Sitz in Frankfurt am Main – zunächst im »Eurotower« mitten im Frankfurter Bankenviertel, seit 2014 vornehmlich im neugebauten EZB-Turm im Frankfurter Ostend. Als EU-Institution besitzt die EZB einen »extra-territorialen« Status. Sie etabliert zwar kein eigenes souveränes Territorium mit eigenen Gesetzen, genießt aber eine Vielzahl rechtlicher Privilegien und Immunitäten. In der EZB-Zentrale befindet man sich genau genommen nicht auf deutschem Boden, sondern in der EU – also nicht in der EU und in Deutschland, sondern nur in der EU, in Europe sans phrase. Wie die Juristen Gruber und Benisch in einem Gutachten für die EZB darlegen, ist der Status der Bank mit dem einer Botschaft zu vergleichen, ist aber noch umfangreicher. Die EZB genießt nicht nur Immunität gegenüber der Durchsetzung deutschen Rechts, sondern ist zudem von einer Reihe rechtlicher Regelungen ausgenommen. Laut Artikel 291 der europäischen Verträge ist die EZB etwa vom deutschen Steuerrecht und Arbeitsrecht ausgenommen. Zugleich geht der Sonderstatus der EZB aber auch mit Schutzansprüchen gegenüber dem deutschen Staat und der Stadt Frankfurt einher. Einerseits dürfen öffentliche deutsche Autoritäten die EZB nicht ohne Genehmigung betreten. Andererseits soll der deutsche Staat die Gebäude der EZB und ihre territoriale Integrität nicht nur achten, sondern aktiv schützen, um so ihre Operationsfähigkeit zu gewährleisten. Deutschland, so heißt es, habe die EZB »against any intrusion or damage and any other impairment of its operations« zu schützen.
Diese komplexe rechtliche Sonderstellung der EZB »in« Deutschland und »außerhalb« Deutschlands nimmt in der Architektur und den Sicherungsmaßnahmen des neu errichteten EZB-Sitzes materielle Gestalt an. So ist die Bank von insgesamt vier Absperrungsringen umgeben, die potenzielle Eindringlinge abhalten sollen. Selbst die FAZ sprach daher vom Neubau als der neuen »Burg« der EZB. Ebenso gut hätte man auch von »Europas Festung« sprechen können. Allzusehr erinnert die Abriegelung der Zentralbank an die »Festung Europa«, die Synonym geworden ist für die Abschottung der Außengrenzen der Europäischen Union. Hier wie dort soll ein System von Grenzen und Schutzringen (teilweise noch vor der eigentlichen EU-Grenze) »Eindringlinge« vor Betreten der Union schützen, um ihre territoriale Integrität zu sichern.
Gleichzeitig ist die EZB aber auch der Schauplatz eines anderen Sicherheitsprojekts, dem es weniger um die Sicherung von Grenzen und um territoriale Integrität als um die Sicherstellung von flows bzw. um die Kontinuität von Finanztransaktionen geht. Der Neubau der EZB inkorporiert Teile der ehemaligen Frankfurter Großmarkthalle. Die 1928 eröffnete Großmarkthalle war ein Umschlagsplatz für Waren und Güterströme, die über den Main nach Frankfurt geliefert wurden. Dadurch war die Markthalle so etwas wie ein obligatorischer Passagepunkt für die materiellen Güterströme des Handelskapitalismus. Mit der EZB ist derselbe Ort heute ein Knotenpunkt virtueller Finanzströme. Kaum eine Finanztransaktion in Europa, die nicht durch die Zahlungssysteme der EZB (SEPA, das Retail Payment System und TARGET2, das Large Value Payment System) geschleust wird. Die Etablierung, der Betrieb und die Sicherung dieser Zahlungssysteme stehen nicht für die souverän-territoriale Abschottung des europäischen Staatsgebietes, sondern vielmehr für die Gewährleistung des freien, ungehinderten und kontinuierlichen Geldflusses innerhalb des europäischen Binnenmarktes: Europa als Single Euro Payment Area (SEPA). Die Sicherung der Zahlungsströme wird aber nicht zuletzt mithilfe der territorialen Sicherung der extra-territorialen EZB ermöglicht. Um als Herrin über die Ströme zu wachen, hat sich die EZB inselhaft abgesetzt und genießt die Vorzüge ihrer Extra-Territorialität, die dazu beitragen sollen, den kontinuierlichen Betrieb systemwichtiger Operationen zu ermöglichen. Die Sicherung des Territoriums ist hier ein Mittel zur biopolitischen Sicherung von Zirkulationen. Ihr territorialer Sonderstatus macht die EZB zu einer »Heterotopie der Zirkulation«.
In der Folge einer Demonstration gegen die europäische Krisenpolitik am 15. Oktober 2011 hatte sich unmittelbar vor der EZB zwischenzeitlich aber noch eine andere Heterotopie in der Frankfurter Innenstadt etabliert: ein Camp der Occupy-Bewegung. Die Occupy-Bewegung hatte diesen Ort nicht zufällig gewählt, schließlich verstand sie sich gegenüber der Frankfurter Bankenwelt und deren Aufseherin als »Gegenort«. Wie ihr US-amerikanisches Vorbild, die Occupy Wall Street-Bewegung, wollten auch die Frankfurter Occupisten den häufig diffusen Widerstand gegen den Finanzkapitalismus an den Orten seiner konkreten Praxis sichtbar und dauerhaft machen, indem sie Zelte inmitten der Handelszentren aufschlugen.
Die sogenannte Blockupy-Bewegung hat diesen Ansatz weiterentwi-ckelt. Ihr geht es nicht nur darum, den Widerstand an zentralen Orten und Drehscheiben der Finanzökonomie und Politik symbolisch sichtbar zu machen, sondern praktisch zu intervenieren, indem sie diese Orte blockiert. Mit Parolen wie »Frankfurt fluten« hatte das Blockupy-Netzwerk, bestehend aus unterschiedlichen linkspolitischen Gruppierungen, das erste Mal für den 16. bis 19. Mai 2012 nach Frankfurt bzw. »ins Herz des europäischen Krisenregimes« mobilisiert, um gegen die Politik der Troika (IWF, EU und EZB) zu demonstrieren. Dabei sollte unter anderem versucht werden, für einen Tag das Frankfurter Bankenviertel »lahmzulegen« und insbesondere die Europäische Zentralbank zu blockieren. Im Aufruf der Blockupy-Bewegung heißt es: »Wir werden gegen die Politik von EU und Troika demonstrieren, die EZB blockieren und die öffentlichen Plätze im Frankfurter Finanzzentrum okkupieren […]. Wir werden am 18. Mai den Geschäftsbetrieb der Banken in Frankfurt blockieren, um unsere Wut über die Troika-Politik konkret werden zu lassen.«
Vor dem Hintergrund der massiven Sicherheitsmaßnahmen und der Schutzpflichten seitens der Stadt gegenüber der EZB sowie der Sorge um Unterbrechungen des »Geschäftsbetriebes« bei Banken ist es wenig verwunderlich, dass die Drohgebärden der Blockadebewegung massive Reaktionen hervorgerufen haben. Angesichts der bevorstehenden Demonstration wurden die BCM-Pläne der Banken aktiviert und einige Filialen teilweise ganz geschlossen, Mitarbeiter_innen wurden dazu aufgefordert, von zu Hause aus oder an einem Ausweichstandort zu arbeiten und, sofern sie doch einen der Bankentürme aufsuchen mussten, dies nur in unauffälliger »Freizeitkleidung« zu tun. Zudem wurde das Bankenviertel weiträumig von der Polizei abgesperrt, U- und S-Bahnhaltestellen in der Nähe der EZB und des deutschen Bankgebäudes (Willy-Brandt-Platz und Taunusanlage) wurden nicht mehr angefahren.
Nicht nur das Ausmaß der Sicherheitsmaßnahmen, sondern auch die Konsequenz und Gründlichkeit, mit der die von den Demonstrant_innen angedrohte Blockade des Bankenviertels nun de facto hoheitlich von der Polizei exekutiert wurde, sorgte bei vielen Beobachter_innen für Irritationen. Nicht zuletzt die Protestbewegung, die wohl selbst überrascht war, welche Prozesse sie mit ihren Blockadevorhaben ausgelöst hatte, griff die offensichtlich gewordene Sicherheitsparadoxie genüsslich auf und verbuchte sie als Erfolg. Auf einer vorsorglich aus der Innenstadt verbannten Diskussionsveranstaltung mit David Graeber und Michael Hardt im Frankfurter Studierendenhaus gab letzterer dieser weit verbreiteten Stimmung Ausdruck: »Something remarkable, indeed magical happened today. The protest was successful before it even started.« Tatsächlich waren die relevanten Expert_innen der Sicherheit mit der klassischen Problematik liberaler Sicherheitsdispositive konfrontiert: Wie kann man eine »Flut« (in diesem Fall von Demonstrant_innen) aufhalten, ohne gleichzeitig die vitalen flows zu unterbinden?
Aus der Perspektive der Kontinuitätsmanager_innen der Banken stellte sich die Lage naturgemäß anders dar. So betonte ein von mir interviewter BC-Manager immer wieder die Gefahr, die von Blockupy für das Frankfur-ter Bankwesen ausgegangen sei. Blockupy habe das spezifische »Gefähr-dungspotenzial« des Frankfurter Bankenviertels deutlich werden lassen: »Also ich kann in Frankfurt mit wenigen Maßnahmen den Financial District blockieren, indem ich einfach ein paar wenige U-Bahnstationen blockiere. Ein Großteil der Mitarbeiter kommt über öffentliche Verkehrsmittel nach Frankfurt rein. Wenn ich hier die Hauptwache blockiere – das haben die Blockupy-Aktivisten ja auch schnell erkannt – wenn ich da zwei, drei U-Bahnstationen blockiere, dann geht in Frankfurt nicht mehr allzu viel. Das ist natürlich eine Konzentration, das ist immer ein Risiko.« (Interview 4)
Entsprechend habe Blockupy eine »Awareness bis ganz hoch zum Management« erzeugt »wo viele Banken hier für einen Tag ihre Bürotürme komplett geräumt haben« (Interview 4), und ein weltweit bisher einzigartiges, BCM-relevantes Ereignis im Finanzsektor dargestellt. »Also das ist bisher einmalig gewesen in der Bankengeschichte. Ich kenne es nicht, dass fast alle Banken ihre Bürotürme geräumt haben, gemeinschaftlich.« (Interview 4) Auch die internationale Kontinuitätsmanagement-Szene wurde durch Protestformen wie die von Blockupy auf eine neue Gefährdungsgat-tung aufmerksam. Nur wenige Monate nach Blockupy erschien im Magazin Resilience. Winning with Risk der Beratungsfirma PWC ein Bericht mit dem Titel Gearing up for protests.
»Popular protests against cuts and austerity are gathering momentum across Europe. These are a foretaste of what may lie ahead. If there are exits or the currency collapses […] ensuing unrest may be difficult to contain. Incident management and business continuity planning are generally associated with issues related to natural disasters. But they may need to be broadened to incorporate the repercussions of economic meltdown.«
Die Demonstrationen in Frankfurt werden aus der Perspektive des Kontinuitätsmanagements als ein Störimpuls angesehen, der, sofern die richtigen Schlüsse aus ihm gezogen werden, zu einer Erweiterung des Anwendungsfeldes der Sicherheitstechnologie des BCM führen und so zu einer Steigerung betrieblicher Resilienz beitragen kann. Gleichwohl sind den Akteuren des BCM auch die autoimmunen Effekte der eigenen Sicherheitsmaßnahmen nicht entgangen. »Natürlich kam das so ein Stück weit zu einer Selbstblockade. Auf der anderen Seite muss man auch mal sehen, dass es auch eine sehr gute Gelegenheit war, für Frankfurt genau so ein Szenario mal zu beüben, gemeinschaftlich ne. Also viele haben die Situation auch als Übung verstanden und gefahren. Und dann macht es auch großen Sinn, weil man eine Übung in dem Ausmaß im Normalbetrieb gar nicht planen kann. Das würde keiner akzeptieren, dass man einen gesamten Bankenturm leerräumt. Aber hier war das adäquat und angemessen. Da konnte man das auch mal beüben. Wie arbeiten jetzt tausende von Mitarbeitern remote von Zuhause oder von einem Ausweich-Arbeitsplatz, funktioniert das dann?« (Interview 4)
Sicherheitsexpert_innen wie der interviewte Kontinuitätsmanager wissen, dass sie sich für ihre Maßnahmen und Entscheidungen im Nachhinein rechtfertigen müssen. Deshalb wissen sie auch (zumindest implizit), dass Risiko nicht nur in einer jeweils äußeren Gefährdung, sondern vor allem auch in ihren Entscheidungen für oder gegen eine bestimmte Sicherheitsmaßnahme liegt. Die Rechtfertigungen vergangener Entscheidungen gehört ebenso zum Beruf des Krisenmanagers wie die vorsorgliche Erwägung von Schutzmaßnahmen. Besonders aufschlussreich ist zudem der Bezug auf die Logik der Übung. Er zeigt, dass BCM nicht erst in konkreten Einsatzsituationen mit Paradoxien der Sicherheit konfrontiert ist. Denn einerseits sollen Geschäftsunterbrechungen vermieden werden, andererseits ist aber schon die bloße Existenz eines Business Continuity Managements ein potenzieller Störfaktor, weil Übungen als intrinsischer Bestandteil einer jeden Kontinuitätsstrategie notwendigerweise selber Friktionen bis hin zu Geschäftsunterbrechungen darstellen. Die Grenzen zwischen Übung und Störfall verschwimmen. Nicht nur ist jeder Ernstfall eine Übung, die neue Erkenntnisse generiert und Anpassungszwänge an neue Gefährdungslagen aufzeigt. Umgekehrt ist auch jede Übung ein Unterbrechungsereignis.
Wie selbst der Kontinuitätsmanager zugestanden hat, konnte die Blockupy-Bewegung den Sicherheitsapparat nicht nur zu einer Selbstblockade nötigen, sondern diese Selbstblockade zugleich auch als Paradoxie der Sicherheit sichtbar machen. Die Kritik von Blockupy geht freilich über die Konstatierung solcher Paradoxien hinaus. Der in ihren Aktionsformen – »Blockierung des Geschäftsbetriebes der Banken« – eingelagerte praktische Widerstand läuft schließlich auf eine grundsätzliche Konfrontation mit dem Kontinuitätsmanagement hinaus. Es gibt aufgrund der Heterogenität der Bewegung unterschiedliche Möglichkeiten, diese den Aktionsformen implizite Kritik zu explizieren. Äußerungen wie die im Demonstrationsaufruf – »Wir werden am 18. Mai den Geschäftsbetrieb der Banken in Frankfurt blockieren, um unsere Wut über die Troika-Politik konkret werden zu lassen« – lassen erst einmal nur auf ein diffuses Unbehagen schließen. Mit ihren massiven Sicherheitsmaßnahmen hat die Polizei suggeriert, den Demonstrant_innen gehe es um eine substanzielle Sabotage der »finanzkapitalistischen Maschine«. Dies war jedoch faktisch nicht der Fall. Insofern scheint eine angemessenere Interpretation zu sein, dass es Blockupy weniger um Zerstörung der Maschine als um ein temporäres Bremsen und Blockieren des Arbeitsalltags im Frankfurter Bankenviertel ging, um ihrer Kritik Gehör und Geltung zu verschaffen. Es ging darum, durch die Unterbrechung der Routinen des Geschäftsbetriebs zugleich die Routinen einer Politik zu hinterfragen, in der grundsätzliche Kritik an den Maßnahmen der Bankenrettung, Finanzregulation und Austeritätspolitik zumeist überhört wurde.
In diesem Sinne lässt sich Blockupy als Bewegung der Disruptiven Demokratie verstehen. Mit dem Begriff der Disruptiven Demokratie bezeichne ich eine Reihe von politischen Bewegungen, die ihre politische Macht dadurch manifestieren, dass sie Unterbrechungen sozio-ökonomischer Funktionsvollzüge erzeugen. Beispiele für solche Bewegungen sind die westeuropäischen Arbeiter_innen der Kohleindustrie, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert durch die Blockade des Energieflusses der industriellen Welt zu entscheidenden Protagonist_innen der Etablierung wohlfahrstaatlicher Massendemokratien geworden sind. Die Streiks der Kohlearbeiter_innen haben aufgrund der Kohleabhängigkeit der gesamten Industrie nicht nur entscheidend dazu beigetragen, ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, sondern auch eine Vernetzung mit Arbeiter_innen in anderen ebenfalls lahmliegenden Teilen der Industrie ermöglicht. »What was missing was not a repertoire of demands, but an effective way of forcing the powerful to listen to those demands. The flow and concentration of energy made it possible to connect the demands of miners to those of others, and give their arguments a technical force that could not easily be ignored.« Auch der zivile Ungehorsam gegen die Castor-Transporte, mit denen die deutsche Ökobewegung gegen Kernenergie und den Atomstaat protestierte, sind ein Beispiel, bei dem Bewegungen die infrastrukturelle Verwundbarkeit eines techno-ökonomischen Systems genutzt haben, um ihrem Protest Nachdruck zu verleihen. Jeweils waren die Interdependenzen und Konzentrationen des Energiesystems, die von Sicherheitsexpert_innen so gefürchtet werden, zugleich die infrastrukturellen Voraussetzungen für effektiven Widerstand. Nicht zufällig sorgen in jüngerer Zeit immer wieder Proteste von Transport- und Hafenarbeiter_innen für Aufmerksamkeit. Aufgrund ihrer Stellung im kapitalistischen Produktions- und Zirkulationsprozess haben sie seit jeher eine besondere Affinität zu Formen des logistischen Widerstands. In der Gegenwart haben diese Widerstände sogar noch an Bedeutung gewonnen. So geht die Verlagerung von Produktionsstandorten in Niedriglohnländer im Zuge kapitalistischer Globalisierungsbewegungen mit einem intensivierten Waren- und Güterverkehr einher, der seinerseits überhaupt nur durch die logistische Revolution seit dem Zweiten Weltkrieg möglich geworden ist. In Anbetracht der wachsenden Bedeutung von Waren und Lieferketten hat Anna Tsing das gegenwärtige Regime kapitalistischer Wertschöpfung gar als »supply chain capitalism« bezeichnet. Mit dem Aufstieg des globalen Lieferkettenkapitalismus haben sich veränderte Konfliktmuster zwischen Arbeit und Kapital eingespielt. So hat Beverly Silver gezeigt, dass die Arbeiter_innenmacht durch die Globalisierung zwar geschwächt wurde, weil Unternehmen durch Verlagerung von Produktionsstandorten Druck auf Regierungen und Arbeitnehmer_innen ausüben können. Gleichzeitig eröffnet die große Abhängigkeit von störungsfreien, weltweit verteilten Versorgungsnetzwerken neue Protestmöglichkeiten, in deren Zentrum Logistikarbeiter_innen stehen. In Bezug auf eine alte Marx’sche Unterscheidung ließe sich – gewiss etwas zugespitzt – argumentieren, dass nicht mehr die Produktionssphäre der Fabrik, sondern die Zirkulationssphäre der Lieferketten und logistischen Versorgungsnetzwerke zum entscheidenden Ort des Widerstands gegen den Kapitalismus geworden ist.
Das gilt in gewisser Weise auch für die Blockupy-Bewegung, deren Widerstand sich auch gegen eine bestimmte Form des »circulatory capitalism« richtet, indem sie versucht, die Operationen des Finanzwesens zu unterbrechen. Darin liegt die Ähnlichkeit von Blockupy zu einem anderen Ableger der Occupy-Bewegung, Occupy Oakland. In einem Bündnis mit den Hafenarbeiter_innen ist es der Occupy-Bewegung hier im Winter 2011 gelungen, den Hafen der kalifornischen Stadt Oakland – einer der bedeutendsten Häfen der US-Westküste – für mehrere Tag lahmzulegen. Wenn all diese Bewegungen versuchen, den reibungslosen Fluss von Energie, Geld oder Waren zu stören, geht es nicht um die Zerstörung der angegriffenen Systeme und Netzwerke, sondern darum, politische und ökonomische Forderungen mal begrenzter, mal weitreichender Natur durchzusetzen. Die Unterbrechungen sind Mittel, keine Zwecke der Politik und der Politisierung von nur scheinbar rein funktional-technischen Prozessen.
Die genannten Bewegungen eint aber nicht nur ein bestimmtes Set an Aktionsformen, sondern auch ihre schwierige Position in einem Dispositiv der Sicherheit, das in der Sicherstellung von Zirkulationen und dem Schutz vitaler Systeme seine vornehmste Aufgabe sieht. Jeweils sind die disruptiven Demokratiebewegungen nämlich nicht nur mit bestimmten Konfigurationen ökonomischer und sozialer Macht konfrontiert, sondern zudem mit Sicherheitsprojekten, die einen flüssigen und kontinuierlichen Strom der vitalen Güter und Ressourcen organisieren sollen. Die Reorganisierung der Energieversorgung durch das flexibler und dadurch sicherer zu transportierende Öl, das »Supply Chain Risk Management«, aber auch das Business Continuity Management bei Banken sind Projekte der Sicherstellung kapitalistischer Kontinuität, die den Bestrebungen der Disruptiven Demokratisierung diametral entgegenstehen. Auf den ersten Blick wirken beide Bewegungen – Disruptive Demokratie und die Apparate zur Sicherung vitaler Operationen – wie Spiegelbilder. So verfügen beide über ein ähnliches Wissen über Verwundbarkeiten und bottlenecks in der Infrastruktur. »Wenn ich hier die Hauptwache blockiere – das haben die Blockupy-Aktivisten ja auch schnell erkannt – wenn ich da zwei, drei U-Bahnstationen blockiere, dann geht in Frankfurt nicht mehr allzu viel.« (Interview 4)
Was dabei jeweils die Infrastruktur ausmacht, unterscheidet sich jedoch grundsätzlich. Während in einem Fall die Infrastruktur »kritisch« ist, weil vitale Funktionen von ihr abhängen, ist sie im anderen Fall »kritisch«, weil sie ein Werkzeug für kritische Widerstandspraktiken ist. Welten trennen beide Bewegungen, weil sie tatsächlich unterschiedliche Ontologien der Infrastrukturen voraus- und einsetzen: einmal Infrastruktur als Schutzobjekt, einmal als Terrain für politische Kämpfe, einmal Kritische Infrastrukturen, einmal Infrastrukturender Kritik. Dass sich beide ontologisch inkommensurable Welten dennoch überlagern und aneinander reiben, führt zu Erschütterungen bei ihrem Aufeinandertreffen, zu ontologischen Konflikten bzw. »Seinsbeben«. Denn von der Warte der Ontologie der Sicherheit aus muss Widerstand als Unterbrechungsrisiko verstanden und deshalb unterbunden werden. »If it is the security of efficient trade flows that animates […] security today, then the interference that comes from ›inefficiencies‹ like democracy, and the actors that demand it, might themselves be construed as security threats.«
Tatsächlich ist die jüngere Vergangenheit voll von Beispielen, etwa Streiks von Arbeiter_innen im Logistik- oder Transportbereich, die empfindliche Reaktionen des Sicherheitsapparats hervorgerufen haben. Umgekehrt muss aus der Perspektive der Disruptiven Demokratie die Sicherung vitaler Systeme als counterinsurgency erscheinen. Auch in Frankfurt schien die Sicherheit der Kritischen Infrastrukturen des Finanzwesens wichtiger zu sein als das Recht auf kritische Meinungsäußerung; das war zumindest das Bild, das sich angesichts des Verbots von nahezu allen Veranstaltungen von Blockupy, des massiven Sicherheitsaufgebots und der Aktivierung der Katastrophenpläne bei den Banken einstellte. Allerdings ging das Verbot der Protestveranstaltungen nicht vom BCM der Banken selbst aus. Das massive Polizeiaufgebot war zwar Teil einer »gemeinschaftlichen« Sicherheitsstrategie Frankfurts, aber nicht alleiniger Ausdruck der Programmatik des Kontinuitätsmanagements. Vielmehr kam es zu einer Vermischung von vital systems security und dem Sicherheitsapparat der souveränen Staatsmacht. Gleichwohl gehören in der »generischen« Logik des Continuity Managements Phänomene wie Proteste, Streiks und ziviler Ungehorsam in dieselbe Serie von Ereignissen wie Naturkatastrophen, Terror und Epidemien, insofern sie zu Geschäftsunterbrechungen führen können. »Deshalb wäre für mich Streik und Pandemie mit dem Effekt, beide Male sind die Menschen nicht da, gleich zu bewerten.« (Interview 6) Dadurch ist die Logik des BCM zumindest anschlussfähig an repressive Maßnahmen gegen Disruptive Demokratiebewegungen.
Blockupy hat keine substanzielle Unterbrechung des Finanzbetriebs bewirkt. Die Folge der Blockupy-Aktionen – und wenn man will auch ihr Erfolg – bestand vielmehr darin, dass sie eine Reihe von Sachverhalten und Machtbeziehungen sichtbar gemacht haben. Das massive Sicherheitsaufgebot und die Implementierung von BCM-Plänen bei Banken, die auch ein Thema in der Presse waren, haben die Verwundbarkeit des globalen Finanzkapitalismus unterstrichen – und zwar nicht nur für Sicherheitsexpert_innen, sondern auch für eine kritische Öffentlichkeit. Das ist wichtig, nicht weil es Möglichkeiten für die Sabotage der Finanzmaschine anzeigt, sondern weil es einen Anhaltspunkt für die Sinnfälligkeit politischer Pro-teste an den konkreten Orten des häufig als anonym, ortlos und abstrakt beschriebenen Finanzkapitalismus ergibt. Der Finanzkapitalismus kann nur global sein, weil er mundan ist, weil er an konkreten Orten, über materielle Infrastrukturen und mit identifizierbaren Personen operiert. Das macht ihn verwundbar, aber vor allem macht es ihn auch für Kritik adressierbar.
Zur einfacheren Lesbarkeit wurden die Quellenverweise und Fussnoten entfernt.
Andreas Folkers; Das Sicherheitsdispositiv der Resilienz; Campus Verlag, Frankfurt/New York; 2018
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